Warum sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen?

Ja, warum denn eigentlich? Ich kann ein Stück weit die Menschen verstehen, die das ablehnen, denn wenn man nicht nur oberflächlich an dem kratzt, was einem gerade in den Kram passt, sondern versucht die ganze Tiefe und das Ausmaß auf die eigene Identität zu begreifen (und sich vor allem mit sich selbst beschäftigt, anstatt die Schuld allen anderen zu geben), dann ist das schon echt nicht leicht. Es katapultiert einen nämlich emotional voll zurück in die Vergangenheit… und warum sollte man sich das freiwillig antun?

„Hey, die Scheiße ist rum. Kannst du eh nicht mehr ändern. Warum machst du das überhaupt?!“

Ja, ich weiß, es klingt sinnfrei, sich über etwas Gedanken zu machen, was ich nicht mehr ändern kann.
Klar. Es ist auch allemal einfacher, sich mit sich selbst im Jetzt auseinanderzusetzen…
Aber warum kann ich nicht beides?

Die Vergangenheit macht uns nun mal zu dem, was wir jetzt sind. Und wenn wir jetzt nicht weiterkommen oder bei etwas Bestimmtem immer wieder auf unsichtbare Mauern stoßen, dann kommen die ja nicht von Nichts. Die haben gewiss auch irgendwo ihren Ursprung. Und da ich nicht zu den Menschen gehöre, die sich damit abfinden oder diese Mauern ignorieren können, finde ich einfach keine vollkommene Ruhe, solange ich das spüre.

Klar geht es mir gut. Wenn ich nicht die Gewissheit hätte, dass mein Leben in Ordnung wäre, würde ich mich wohl kaum an die Vergangenheit wagen, bei der natürlich die Emotionen von damals wieder voll reinhauen. (Weshalb es mir dann logischerweise nicht mehr so gut geht…)

„Haha, du Loser scheiterst an deiner eigenen Geschichte!“ – „Hallo Madame S.“

Warum ich das alles überhaupt mache? Weil ich endlich meinen Frieden will, den ich nicht habe, auch wenn ich sonst alles habe und glücklich bin. Weil ich eben nicht ignorant genug bin, diese Blockade zu übersehen, die jetzt, wo ich beim Lesen meines Blogs im Jahre 2011 angelangt bin, so richtig deutlich wird. Das Kapitel mit Jo war auch hart, ja. Das wenige, das ich bisher über das Mobbing und mein Elternhaus zusammengeschrieben habe, ebenso. Aber 2011 ist noch mal eine ganz andere Nummer mit der Klinik und dem Abbruch des Abis und dem Comeback meiner Depression, die sich nur versteckt hatte.

Der vermutlich größte unverarbeitete Schmerz ist der, nach wie vor nicht bedeutend genug zu sein, weil ich eben nicht studiert habe und keine berühmte Autorin bin und mir mein Leben zu sehr im Weg steht und gleichzeitig auch zu wichtig ist (!), um mich da ohne Rücksicht auf Verluste in den Traum reinzuhängen, für den ich damals wie heute brenne:
Autorin werden. Menschen erreichen. Etwas hinterlassen.

Und ich habe keine Lust mehr darauf, dass mich in meinem Kopf meine personifizierten Zweifel in Form von Madame S. anschreien mit den Worten:
„Sieh dir alle guten Autoren an… die haben irgendwas studiert. Die sind dadurch wichtig. Wer bist du auch schon?!“

Ich habe es satt… und ich habe es so satt, dass mir durch alles, was ich erlebt habe, die Überzeugung von mir fehlt und dass meine selektive Wahrnehmung bei jedem guten Buch als erstes den Werdegang des Autors checkt und hoffnungsvoll nach etwas wie „hat nie studiert, nicht mal Abi und keine Ausbildung“ sucht.

Ich sehe mich demnach zeitgleich als Loser und als „Jeanne d’Arc der Unstudierten“.
Diese Rolle hat meines Wissens bisher auch noch niemand… wäre also noch frei.

Deshalb will ich das Abi übrigens auch nicht nachholen. Damit ist der Käse nämlich noch lange nicht gegessen. Das löst rein gar nicht mein Problem. Mir geht nämlich eher das (Bildungs)System auf die Nerven, das so selektiert und Menschen dazu bringen kann, sich wertlos zu fühlen, woraus sich dann alles andere entwickelt… oder eben auch nicht entwickelt.
Ich finde diese Ungerechtigkeit einfach schrecklich.

Darum schreibe ich. Und schreibe. Und schreibe. Und schreibe. Darum ist schreiben mein Leben und es nicht zu tun fühlt sich an, als würde ich sterben. Und das in einer Welt, in der ich nach wie vor das Gefühl habe, dass das, was ich da mache, nicht der „Norm“ entspricht und somit auch nicht relevant genug ist, um gelesen zu werden.

Aber ich schreibe nicht nur wegen mir und um meine Gedanken und Gefühle zu verarbeiten… ich schreibe auch, weil ich etwas mit meinen Worten bewegen möchte. Ebenso ist es mir wichtig, irgendjemandem das Gefühl zu geben, dass er mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen nicht alleine ist. Ich schreibe, weil ich verdammt nochmal zeigen will, dass das Leben weitergeht, auch wenn man es nüchtern lebt, in der Schule versagt, Depressionen hat oder sonst nicht im Leben „wie man es eben zu leben hat“ so zurecht kommt, wie man denkt es zu müssen.

Yeah, ich bin die „Jeanne d’Arc der Unstudierten“… (nur dass ich hoffentlich nicht ihr Schicksal erleiden muss…)

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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