„Hey, erzähl mal einen Schwank aus deiner Jugend!“
Während ich an meinem Weinglas nippe, es wieder auf den Bierdeckel stelle, überlege ich. Fieberhaft. Was gibt es da schon zu erzählen? Nervös zwirble ich den Stil des Glases zwischen meinen Fingern hin und her, nehme mit der anderen Hand eine Zigarette aus der Schachtel. Man gibt mir Feuer. Ich ziehe. Blicke verträumt dem Rauch hinterher, der in Schwaden emporsteigt. Blicke ins Nichts. Der Antwort entkomme ich so. Wieder einmal. Seit Jahren.
Bis irgendwann irgendjemand nicht aufgibt…
„Na los, komm schon… Erzähl mal einen Schwank aus deiner Jugend!“
Okay, vielleicht erzähle ich es doch mal. Von Anfang an. Denn um zu verstehen, dass es da keinen ‚Schwank aus meiner Jugend‘ gibt und mein Leben erst viel später begonnen hat, muss ich sehr weit ausholen… hm… vielleicht lasse ich es also doch lieber? Ich weiß ja, meine Kindheits- und Jugendgeschichte klingt für viele wie eine Ausrede… hyperdramatisiert und undankbar. Ist ja auch nichts Schlimmes passiert.
„Oh man, auch andere hatten eine schwierige Kindheit, nicht nur du! Hör auf zu jammern!“
„Du wurdest ja nicht mal misshandelt oder hast offene Abneigung zu spüren bekommen, also was hast du? Du hattest alles und hättest alles werden können!“
„Na und, so ist es eben im Leben. Keiner nimmt Rücksicht auf deine Sensibilität. Muss man halt die Zähne zusammenbeißen und durch! Stell dich nicht so an!“
Mir bleibt der Atem weg bei der Vorstellung auf genau das alles zu stoßen, wenn ich zu erzählen beginne: Ablehnung. Unverständnis. Schuldgefühle.
„Was ist nun mit deiner Geschichte?!“ fragt mich mein Gegenüber. Ich kneife die Augen zusammen, blase den Rauch in die Luft, setze ein Lächeln auf und meine zwinkernd, dass ich ja noch mitten in der Jugend sei. Mit Anfang 18 bin ich das ja auch noch. Irgendwie… Kann sein, dass da ja noch was kommt. Ein besseres Leben als das, was ich jetzt führe. Ein Leben, das nicht zwischen Selbstfindung und Selbstzerstörung vor dem Tresen stattfindet. Ein Leben, bei dem ich unabhängig sein kann und auf keinen mehr angewiesen bin. Ein Leben, in dem ich alle lieber etwas auf Abstand halte…
„Ach komm schon, irgendeine Geschichte aus deiner Jugend gibt es doch wohl!“
Mein Gegenüber gibt tatsächlich immer noch nicht auf. Ich bin frustriert, weil ich meine Jugend hasse, genauso wie meine Kindheit. Ich werde innerlich aggressiv, schlucke es aber mit einem weiteren Weißweinschorle hinunter. Suche mir einen anderen Gesprächspartner und entkomme so der Situation.
Bis wir uns dann wieder begegnen…
„Und hast du mir heute etwas zu erzählen?“, grinst mich ein vertrautes Gesicht an.
Man, ist das hier eine Therapiesitzung!? Ich nutze die Trunkenheit des schon etwas vorangeschrittenen Abends, um ihm meine Meinung zu geigen. Daraufhin sieht er mich nur mitleidig an und schweigt erst ein mal eine ganze Weile. Ich bestelle derweil einen Rum mit Orangensaft. Der mir unbekannte Mann blickt immer noch in sein Bier. Nachdenklich. Anschließend sieht er mich an und fragt: „So schlimm?“
Ich stocke. Mein erster Gedanke: Hä, was meint er denn mit ’schlimm‘? Der kennt mich doch gar nicht! Mein zweiter: Wow, vielleicht endlich mal ein Mensch, der mich versteht…?
Ich setze mich zu ihm und beginne also zu erzählen. Alles. Von Anfang an. Von Krankheit, Mobbing, Eltern, Suizidgedanken und Depressionen. Von meinen eigentlichen Wünschen, Träumen und Hoffnungen. Er hört mir zu, nimmt jedes einzelne Wort in sich auf, wertet nicht, versucht nicht mich abzulenken oder aufzuheitern. Ich spreche einfach direkt über alles und mit jedem Wort fühle ich mich leichter, weil er mir nicht gleich meine Gefühle abspricht. Weil er mir signalisiert, dass er wirklich versteht. Und ich spüre mit einem mal eine Wärme, die den Bacardi Orange überflüssig macht. Wie oft habe ich vermittelt bekommen, dass ich mir alles nur einbilde, unnötig zerdenke und dramatisiere? Irgendwann war da dann absolut niemand mehr, dem ich irgendetwas hätte anvertrauen können. Okay, vielleicht habe ich es damals auch nie so kommuniziert… aber von wem hätte ich das Kommunizieren denn lernen sollen? Von meinen Eltern, die sich immer fremd waren seit ich denken kann und davor im Grunde genommen auch schon? Die sich außer Alltagssticheleien nie etwas wirklich Tiefes zu sagen hatten und an denen ich gesehen habe, dass lächeln und sich aus dem Weg zu gehen besser ist als zu streiten und zu merken, dass man nicht dieselbe Sprache spricht?
„Meine Güte…“, meint der namenlose Unbekannte mit dem Bier mitfühlend. Kein Mensch auf der Welt ist mir jetzt in diesem Moment so verbunden wie er. Und ich merke, wie mit jedem unausgesprochenen Vertrauensbruch die Barrieren zwischen meinen Mitmenschen und mir über all die Jahre größer und größer wurden. Bis ich irgendwann aufgehört habe zu sprechen. Bis ich irgendwann einfach nur noch alleine sein wollte, um diesen Schmerz nicht mehr zu spüren, der mit jedem Wort des Unverständnisses wieder aufloderte. Ja, ab einem gewissen Punkt wollte ich dann nur noch ganz alleine sein…
Mir kommen die Tränen. Mitten in der Kneipe. Er nimmt mich in den Arm. Ganz fest und ehrlich. Wie eine Freundin. Eine Tochter. Eine Schwester. Wie den größten Schatz, dem er je begegnet ist. Bedingungslos und voller Respekt, wie man es sich eigentlich von allen wünscht, die einem Nahe stehen (sollten). Man wünscht sich so sehr, dass sie zuhören und nicht werten, nicht dazwischensprechen und einem ihre Sicht darlegen. Man wünscht sich, dass sie einen einfach annehmen. Mit all den Gefühlen, seien sie nun gut oder schlecht.
Vielleicht fragt ihr euch jetzt, was ich mit diesem Text eigentlich aussagen will. Warum kann ich die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen und krame den alten Mist wieder hervor (von dem alle denken, ich hätte ihn verarbeitet bzw. mich damit abgefunden)?
Weil mich all das Unausgesprochene verfolgt und immer noch an mir nagt und mich daran hindert, wirklich frei zu sein von negativen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Weil das mitunter ein unglaublich großes Futter für Madame S. ist, meine innere Stimme, die mich gelegentlich runter macht.
Und warum schreibe ich darüber? Weil es so wichtig ist, sich als Kind folgendes bewusst zu machen:
Nur weil man euch eure kindlichen Empfindungen abspricht und eure Familie von außen intakt scheint, bedeutet das nicht, dass sie das auch ist. Nur weil ihr die negativen Stimmungen zwischen den Eltern um einiges krasser spürt, selbst wenn keine direkte Gewalt im Spiel ist und es nur um belanglose Streitthemen wie Fußball geht, heißt das nicht, dass da nichts ist, was wehtut. Nur weil ihr euch nicht erinnern könnt und andere eure Kindheit für okay halten, weil ihr ja alles hattet und durftet, heißt das nicht, dass ihr nicht das Recht hattet zu leiden und euch verdammt beschissen und alleine zu fühlen. Nur weil ihr stillschweigend irgendwann abgeschaltet und euch zurückgezogen habt, heißt das nicht, dass da nie was war, was euch weh getan hat…
Natürlich wissen es Eltern oft auch nicht besser und nicht jedes Kind kommt damit so schlecht zurecht wie ich. Aber das ist kein Grund wegzusehen und ein sensibles Kind so auf diese knallharte Welt vorzubereiten… gerade bei diesen Kindern ist reden unglaublich wichtig!
Und wenn ich es könnte, würde ich all das sagen, darüber sprechen. Aber gerade bei Menschen, die einem scheinbar nie zugehört oder einen verstanden haben (und sich selbst im Übrigen auch nicht), ist das verdammt schwierig. Auch wenn sich so einiges geändert hat, bleibt der Schmerz. Denn eines hat sich nicht geändert: Die Beziehung zwischen meinen Eltern untereinander. Und ich merke erst jetzt, was eine Beziehung eigentlich ausmacht und begreife immer mehr, dass da nie etwas Gemeinsames zwischen den beiden war. Außer mir vielleicht. Aber wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so gibt es keine gemeinsamen Erlebnisse. Keine Gespräche über Gefühle und Empfindungen. Keine gegenseitige Unterstützung. Nur ein Machen und eine Selbstverständlichkeit. Es gibt nur Frust und Flucht. Bis heute… und ein Schweigen, das keiner bricht. Außer mir… vielleicht…