Vom Prä-Alkoholismus II – Co-Abhängigkeit

Hier nun der zweite Teil meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholismus. Diesmal bin ich ausschließlich auf das Thema „Co-Abhängigkeit“ eingegangen.

Eine kleine Info vorweg: Ich habe im Folgenden eher von dem Alkoholiker und einer weiblichen Co-Abhängigen geschrieben, weil diese Form auch häufiger verbreitet ist. Aber natürlich gilt das auch für Alkoholikerinnen und männliche Co-Abhängige.
Ebenso taucht die Co-Abhängigkeit im Zusammenhang mit anderen Suchtmitteln/Drogen oder „Verhaltenssüchten“ (Spielsucht, Magersucht,…) auf.

 

Aber was ist eigentlich eine Co-Abhängigkeit?

Als co-abhängig bezeichnet man vor allem jene Bezugspersonen im Umfeld des Süchtigen (wie z.B. Familienangehörige, Partner, Freunde, Arbeitskollegen), die durch ihr Verhalten diese Sucht zusätzlich „fördern“/unterstützen und dadurch dafür sorgen, dass sie bestehen bleibt.

Die Co-Abhängigkeit verläuft meist in den folgenden drei Phasen (nach Helmut Kolitzus), zu denen es jeweils typische Verhaltensweisen gibt:

Phase 1: Beschützer- und Erklärungsphase

Zunächst wird viel Verständnis für den Alkoholiker und seine Situation aufgebracht und versucht sein Verhalten eben dadurch zu „erklären“. Co-Abhängige denken oft, dass sie die abhängige Person durch Liebe, Mitgefühl, Verständnis und Zuneigung „heilen“ oder „retten“ könnten und dass sie z.B. durch ihre Nähe zu ihm mehr Einfluss hätten als ein Therapeut.
Zu dieser Phase gehört auch das Vertuschen, Schweigen und Lügen Dritten gegenüber. Sie versuchen unter anderem den Alkoholiker zu entschuldigen und in Schutz zu nehmen und werden zu so  genannten „Mitspielern“. Dadurch helfen sie die Fassade aufrechtzuerhalten, sodass der Alkoholiker beruhigt weiter trinken kann.
Als Beispiel sind hier die Arbeitskollegen zu nennen, die über den Alkoholgeruch eines Kollegen hinwegsehen oder es tolerieren, solange er seine Leistung erbringt. Sollte er es nicht mehr tun, beginnen sie seine Fehlleistungen auszugleichen. Allerdings wird auch dabei das Alkoholproblem nicht thematisiert.
Ein weiteres Beispiel wäre die Ehefrau, die den Süchtigen immer wieder beim Arbeitgeber „krankmeldet“, wenn er es nicht schafft zur Arbeit zu gehen.
Im Grunde wird dadurch die Realität verleugnet und so tun sich Co-Abhängige sehr schwer damit, das eigentliche Alkoholproblem der nahestehenden Person zu erkennen und somit auch zu benennen. Es „läuft ja auch alles gut“. Wenn das Geld reicht, der Alkoholiker arbeiten geht, nicht aggressiv ist und alles „normal“ scheint, kann es ja nicht so schlimm sein. Dass der Alkoholkonsum dennoch eine Beziehung belasten kann, wird nicht gesehen.

Phase 2: Kontrollphase

Die Versuche des Co-Abhängigen das Suchtverhalten des anderen einzuschränken bzw. zu kontrollieren zeigen sich z.B. in Verboten, in der Vernichtung des Suchtmittels etc., was dazu führen kann, dass dieser immer raffinierter wird und damit beginnt das Trinken zu verheimlichen.
In dieser Phase steigert sich beim Co-Abhängigen das Verpflichtungs-/Verantwortungsgefühl gegenüber dem Alkoholiker (auch bekannt als „Helfersyndrom“). Er hat das Gefühl noch mehr auf den anderen aufpassen zu müssen und dass das Trinkverhalten in seiner Verantwortung liegt. So beziehen Co-Abhängige oft auf sich, ob der andere nun trinkt oder nicht, übernehmen auch Aufgaben und Probleme des Süchtigen. Nach und nach wird dem Alkoholiker so immer mehr abgenommen, was ihm einerseits das Trinken immer mehr erleichtert und andererseits aber auch seinen Selbstwert senken kann.

Phase 3: Anklagephase

In dieser Phase wird dem Co-Abhängigen die Hilflosigkeit gegenüber des unkontrollierbaren Verhaltens des Suchtkranken immer mehr bewusst. Das Trinkverhalten löst auch immer häufiger Aggressionen aus, führt zu Schuldzuschiebungen, Vorwürfen und Drohungen (wie z.B. Trennung/Scheidung), die je nach Grad der Co-Abhängigkeit jedoch leer bleiben. Daher muss sie der Alkoholiker auch nicht ernst nehmen bzw. an seinem Verhalten etwas ändern.

 

Diese drei Phasen verlaufen jedoch nicht immer nacheinander, sondern in einem sich wiederholenden Wechsel (einem Teufelskreis ähnlich). Ebenso sind sie auch nicht bei jedem Co-Abhängigen gleich stark ausgeprägt. Einige klagen sofort an, andere befinden sich die meiste Zeit in der Beschützerphase. Bezeichnend für alle Variationen ist jedoch, dass das Verhalten des Co-Abhängigen dazu führt, dass der Alkoholiker weitertrinkt. Dadurch  triggert er wiederum den Co-Abhängigen mehr zu beschützen, mehr zu kontrollieren oder mehr anzuklagen…

 

Weitere Verhaltensweisen, die ich jetzt nicht direkt zu den Phasen zuordnen konnte, aber auch genannt werden sollten, sind sowohl die große Anpassungsbereitschaft an den Alkoholiker als auch das Herunterspielen der Sucht.
Darunter fällt z.B. das Mittrinken des Partners, um eine Nähe beizubehalten bzw. „aufzupassen“. Ebenso tun dies Freunde, die den Konsum durch gemeinsames Feiern „legitimieren“ und sogar bewundern, wenn jemand viel verträgt.

Ein nicht zu unterschätzender gesellschaftlicher Aspekt ist hier auch die Tatsache, dass meist komisch reagiert wird auf jene, die nichts trinken. Und wenn nicht, dann wird trotzdem getrunken ohne das Verhalten zu hinterfragen. Eine Cola in einer Kneipe trinken? Oder gar Wasser? Ein alkoholfreier Cocktail? Dafür Geld auszugeben und auch noch einen schönen Abend zu haben ist für die meisten unvorstellbar.
Hierbei wird die Gesellschaft zwar nicht direkt zum Co-Abhängigen, fördert aber gewiss die Entstehung einer Sucht. So ist die Verknüpfung von Spaß mit dem Alkohol (selbst wenn man diesen am nächsten Tag definitiv nicht hat und sich erholen muss) quasi gesellschaftlich akzeptierter als die Abstinenz, die mit Spielverderbern in Verbindung gebracht wird.

 

All diese Verhaltensweisen mögen zunächst sporadisch sein, dann gewohnheitsmäßig, bis sie jedoch schleichend zu einem Zwang und letztendlich wie beim Süchtigen selbst zu einer einer Sucht werden. (siehe Monika Rennert Co-Abhängigkeit: Was Sucht für die Familie bedeutet)
So entstehen mit der Zeit Abhängigkeitsgefühle vom Suchtkranken. Besonders Trennungen fallen da schwer, da die Co-Abhängigen sich ja mitverantwortlich fühlen und schuldig beim Gedanken daran, jemanden zu verlassen, der offensichtlich nicht alleine klar kommt. Für sie bedeutet ein Gehen ein Aufgeben und im Stich lassen und löst ein schlechtes Gewissen aus.

Da der Suchtkranke allerdings erst dann zur Therapie bereit ist, wenn der Leidensdruck größer ist als der Suchtdruck, ist dieses Co-Verhalten der anderen natürlich in hohem Maße hinderlich auf seinem Weg zur Genesung. Durch das vermeintliche „Helfen“, Wegsehen und Mitspielen wird ihm nämlich die Chance genommen, mit der Realität konfrontiert zu werden. So schadet man ihm also eher und verlängert seine Krankheits- und Leidensdauer.
Ebenso schadet man aber auch sich selbst, denn die Co-Abhängigkeit führt zu einer absoluten Selbstaufgabe, bei der die Betroffenen jedoch erst merken wie schlimm es ist, wenn sie selbst an ihre psychischen und körperlichen Grenzen angelangt sind und sie in einem Teufelskreis feststecken, aus dem sie oft aus eigenen Kräften nicht mehr heraus kommen.

Um hier das Zusammenspiel zwischen dem Co-Abhängigen und dem Süchtigen besser zu begreifen wird oft das Bild eines Mobiles beschreiben:
Jeder hat dort seinen Platz und der Idealzustand ist das Gleichgewicht aller Elemente. Ein Element ist der Alkoholiker, ein anderes der Partner, ein drittes z.B. ein Kind. Sinkt der Alkoholiker immer tiefer, so müssen die anderen diese Kraft mit einer Gegenkraft ausgleichen. Sinkt z.B auch die Mutter, weil sie sich zu sehr auf den alkoholkranken Partner fixiert, ist das Kind entweder auf sich selbst gestellt oder muss mehr Verantwortung übernehmen, als eigentlich zumutbar wäre.
Das gilt allerdings auch in die andere Richtung: Ändert der Co-Abhängige sein Verhalten und achtet wieder mehr auf sich, so bekommt der Alkoholiker den Leidensdruck zu spüren und er wird zunächst versuchen das Gleichgewicht auf seine Weise wieder herzustellen und automatisch versuchen den Co-Abhängigen zum bisherigen Verhalten zu triggern. Wenn er scheitert, weil der Gegenpart es wirklich schafft sich zu lösen, besteht die Hoffnung auf Heilung.
Ebenso kann es aber auch umgekehrt geschehen: Der Alkoholiker ändert sich und die Co-Abhängigkeit bleibt trotz mittlerweile abstinentem Partner bestehen, weil sie nicht behandelt wurde. Das kann sich darin äußern, dass dieser sich z.B. nicht mehr gebraucht und wertlos fühlt, sogar selbst das Trinken provoziert oder dass die Beziehung langweilig geworden ist ohne die ganze Aufregung. Bei einer unbehandelten Co-Abhängigkeit kommt es daher oft zu Trennungen und später unter Umständen zu einer erneuten Beziehung mit einem Suchtkranken.

 

Doch wie kommt es nun zur Co-Abhängigkeit?

Nicht jeder an der Seite eines Alkoholikers wird automatisch zu einem Co-Abhängigen. Der Ursprung dieses Verhaltens liegt jedoch – wie so vieles – in der Kindheit.

Am besten trifft es dieser Abschnitt hier:

„Die co-abhängigen Partner/-innen kommen meist aus Familien, in denen die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit nicht oder nur schwer möglich war. Das Klima in diesen Familien ist bestimmt durch Strenge und Kontrolle auf der einen Seite und Desinteresse, Gefühlsarmut und Vernachlässigung auf der anderen Seite. In vielen Fällen war ein Elternteil (oder beide) ebenfalls abhängig. Das co-abhängige Verhalten wurde hier schon früh gelernt. So ist es kein Zufall, dass die schon vorbelastete Frau sich einen Mann sucht, der entweder bereits abhängig ist oder dabei ist, eine Abhängigkeit zu entwickeln.“
[siehe Broschüre über Co-Abhängigkeit vom Blauen Kreuz]

Wir Menschen neigen ja dazu, jene bekannten Muster zu leben und zu wiederholen, die wir bereits kennen und z.B. als Kinder auch erleben mussten. Daher steigt die Tendenz zu co-abhängigem Verhalten erheblich, sobald ein Elternteil ein Alkoholiker war/ist. Wir suchen uns dann Partner aus, die ebenfalls ein Suchtverhalten zeigen. So kommt es unter anderem auch zu dem Gefühl, dass wir z.B. „immer an die falschen geraten“.

Da ein Suchtverhalten in der Familie somit zwangsläufig negative Konsequenzen für alle Beteiligten hat und es sich auch durch das Leben der Kinder und ihre Beziehungen ziehen kann, ist es gerade für sie als Heranwachsende besonders wichtig, dass ihre Gefühle ernst genommen und ihre Sicht wahrgenommen und als berechtigt angesehen wird. Es ist wichtig, über alles zu sprechen und eben nicht zu vertuschen.
Steckt der „nüchterne“ Elternteil jedoch in der Co-Abhängigkeit fest, so bleibt für die Gefühlswelt des Kindes keinen Platz.

Für das Selbstvertrauen des Kindes kann es somit schädlich sein, wenn es mit Glaubenssätzen aufgewachsen ist wie z.B.:
– über Probleme spricht man nicht
– Gefühle zeigt man nicht
– Kommunikation findet am besten indirekt statt (um drei Ecken)
– sei stark, gut, richtig, perfekt
– wir wollen stolz auf dich sein (unrealistische Erwartungen)
– sei selbstlos
– tu was ich dir sage (auch wenn ich was anderes mache)
– sei nicht kindisch
– benimm dich, mach uns keine schade
[Ursula Lambrou: Helfen oder Aufgeben]

Durch die daraus resultierende Verunsicherung fällt besonders in Beziehungen das Vertrauen schwer. Das gilt ebenso für den richtigen Umgang mit Nähe, vor der man sogar eine Angst entwickeln kann. Durch die Liebe zu einem Alkoholiker (der den Alkohol immer vorziehen wird) wird eine Distanz geschaffen, die bekannt ist, und die echte Nähe nicht zulässt. Gleichzeitig kann jedoch die ungestillte Liebesbedürftigkeit zu einem Zwang und zu „übermäßiger Liebe“ und extremer Verlassensangst führen.

Ebenso kann es sein, dass man das Drama des Auf und Ab aufregend findet und ohne es ein „leeres Gefühl“ verspürt. Robin Norwood hat es in ihrem Buch „Wenn Frauen zu sehr lieben“ so beschrieben:

„Wenn Sie eine Frau sind, die mit Depressionen zu kämpfen hat, suchen Sie unbewusst nach Situationen, die für Sie erregend oder aufwühlend sind wie etwa ein Autounfall (oder die Ehe mit einem Alkoholiker)[…]“
[Robin Norwood: Wenn Frauen zu sehr lieben]

Der Untertitel des Buches lautet übrigens „Die heimliche Sucht gebraucht zu werden“. So  fühlen sich Co-Abhängige auch durch das „Helfen“ gebraucht und „profitieren“ dadurch, dass sie durch ihren Einsatz stark, loyal und bewundernswert scheinen. Aber es führt eben auch zur Abwehr der eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Indem sich nämlich alles um den Alkoholiker kreist, beschäftigen sich Co-Abhängige nicht mit sich selbst.

 

Und wie entflieht man nun diesem Kreislauf?

Es ist wichtig, dass man erkennt, wie viel Einfluss der Alkohol auf die Beziehung hat, welche Rolle man selbst dabei spielt und dass man dem Alkoholiker nur dann wirklich helfen kann, wenn man lernt sich auf sich selbst zu konzentrieren und loszulassen.
Angehörige müssen erkennen, dass sie nicht für das Trinken des Partners/Familienmitglieds verantwortlich sind und sich von den Zwangsgedanken befreien, die alle um den Alkoholiker kreisen, was gewiss keine leichte Aufgabe ist. Das Schwierigste ist, die erlernten Verhaltens-, Gefühls- und Denkmuster zu erkennen, welche bisher (unbewusst) das Leben bestimmt haben und dann zu durchbrechen.

Die Genesung der Co-Abhängigkeit ist keine einfache Herausforderung, da sie viel abverlangt. Man wird auch immer wieder in alte Muster fallen, besonders wenn es einem nicht gut geht.

In dieser Zeit können Selbsthilfegruppen wie Al-Anon (für Jugendliche: Alateen) helfen, denn die Gesprächserfahrungen, welche man in einer Gruppe mit Gleichgesinnten sammelt, kann man alleine nicht machen und auch nicht aus einem Buch lernen.
In der Gruppe lernt man nämlich endlich die eigenen Gefühle zu erkennen und zu benennen, hört auf sich etwas vorzumachen und beginnt durch das Sprechen darüber die eigene Scham zu überwinden, welche durch die bisherige Vermeidung des direkten Austauschs entstanden ist. Ebenso erkennt man, dass es auch anderen so gehen kann wie einem selbst, fühlt sich verstanden und nicht mehr alleine mit den Sorgen.
Die anderen Betroffenen sind somit der ideale Spiegel des eigenen Verhaltens. Gemeinsam kann man sich in den Gesprächen über Erfolge und auch Misserfolge (wie. z.B das Zurückfallen in alte Verhaltensmuster) eine Stütze sein und voneinander lernen.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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