Ich fühle ich mich leicht orientierungslos, als ich mich mitten in einer Häuserschlucht eines „Gewerbeparks“ befinde. Links sind Gebäude, vor mir sind Gebäude, rechts ebenso. Laut den Firmenschildern ganz vorne bin ich hier richtig. Also… ungefähr… irgendwo hier…
Kurz frage ich mich, ob Fußgänger normalerweise einen anderen Weg als die Einfahrt benutzen. Oder ob hier überhaupt jemand zu Fuß kommt?! Fragen über Fragen.
Die nächste lautet: Ist es normal, dass ein u-förmiger Gebäudekomplex die gleiche Hausnummer hat!? Instinktiv laufe ich nämlich zum rechten Teil und zu der gut sichtbaren Zahl 15, wo ich ja hin möchte. Ich laufe bis ans Ende und die beiden einzigen Eingänge ab und stelle fest, dass dort nicht das ist, was ich suche. Da der Teil in der Mitte auch nicht danach aussieht, bleibt also nur der letzte Teil ganz links. Also wieder alles zurück, die Öffnung des „U“s entlang und das Beste hoffen…
Quer über den Parkplatz wollte ich nicht laufen. Die Schilder, die auf die Videoüberwachung hinweisen, schüchtern mich zugegebenermaßen auch etwas ein. Ob die nicht nur für den Eingang gilt? Was, wenn jemand meinen Spießrutenlauf beobachtet hat? Ich habe einen schwarzen, langen Mantel an… trage einen großen Rucksack… habe schwarze hohe Stiefel mit neongrünen Schnürsenkeln! Und: keiner erwartet mich! Bin ich damit nicht automatisch verdächtig?!
Im Geiste male ich mir bereits aus, wie gleich das SEK mit Kastenwagen in die Einfahrt brettert, mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hinlegt, mehrere dunkel gekleidete Menschen mit schusssicheren Westen und Masken aus dem Wagen springen und mich niederknüppeln.
„Dabei wollte ich nur meine Bewerbung abgeben!“, entgegne ich atemlos mit einem Knie im Gesicht.
„Zu Fuß!?“
„SIE HABEN EINE BRIEFBOMBE IM RUCKSACK!“
„Ja, sonst hätten Sie ihre Bewerbung einfach per Post verschickt!“
Bevor sich diese Szene in meinem Kopf zuspitzt, holt mich zum Glück die Realität wieder ein. In dieser stehe ich nun zwar vor dem richtigen videoüberwachten Eingang, muss nun aber eine Entscheidung treffen, denn zu lange will ich auch nicht dort stehen.
Oh man, ich will das nicht. Ich will eigentlich wieder gehen. Alles in mir ist verunsichert. Neue Situation. Neue Umgebung. Gleich neue Menschen… Alles seeeeehr bedrohlich. Also lieber einfach nur den Brief einwerfen und gehen? Soll ich ihn überhaupt einwerfen? Meine Augen erfassen den Briefkasten; den einen von vielen, vielen Briefkästen. Anschließend wandern sie zur Tür. Sie suchen nicht die Kameras, um nicht noch verdächtiger zu wirken, können das „DIESER BEREICH WIRD VIDEOÜBERWACHT!“ aber nicht ganz ignorieren.
„Na ja, vielleicht geht die Tür ja auch gar nicht auf…“, denke ich mir und drücke die Klinke runter.
Sie geht auf und ich betrete die große Ungewissheit eines fremden Treppenhauses. Die Beschilderung bzw. Auflistung der Firmen, die sich in diesem Gebäude befinden, bestätigen mir nochmal, dass ich richtig bin und zeigen mir, wo ich hinmuss: 2. Stock.
„Okay, mal sehen, wie weit ich komme…“
Bereits im ersten Stock will ich umkehren, denn es existieren keine Nummern an den vollkommen nackten Wänden. Keiner geht wohl davon aus, dass man so nervös sein kann, dass man spontan verlernt, wie man auf zwei zählt. Nun gut, ganz so schlimm ist es bei mir zum Glück nicht, denn trotz Unsicherheit weiß ich noch, dass nach der Eins die Zwei kommt und ich noch ein Stockwerk höher muss. Das Treppenhaus gibt mir natürlich auch im zweiten Stock keinen Hinweis, aber durch die fette VIDEOÜBERWACHTE Brandschutztür (vermutlich aus Panzerglas…) sehe ich, dass ich richtig bin. Auch diese Tür lässt sich öffnen und ich betrete das nächste Ungewisse.
Auf meinem Weg nach oben habe ich zwar etwas an Sicherheit gewinnen können und auch den Mut, meine Bewerbung wie geplant tatsächlich gleich persönlich abgeben zu können, aber die Nervosität ist dennoch geblieben. Sie wird wieder entfacht, als ich das kryptische Tastenfeld mustere, das eine Klingel sein soll. Zum Glück realisiere ich recht schnell, dass in diesem kleinen Raum mehrere Türen sind (und ein Aufzug?!) und dass über der Tür ein anderer Firmenname steht. Über der anderen steht der Name des Architekturbüros, wo ich hin möchte.
Ich lausche. Nichts. Ich nehme nicht mal meinen eigenen Atem wahr. Atme, lebe ich noch? Ich suche eine Klingel. Keine da. Ich suche einen Fluchtweg. Liegt hinter mir. Verdammt. Ich will aber nach vorne…
Also mache ich das einzig logische, höfliche, angemessene: Ich klopfe. Lausche. Nichts. Ich warte einige Anstandssekunden, dann drücke ich die Klinke der dritten Tür hinunter und stelle fest, dass auch sie sich öffnen lässt. Widerstrebend und zugleich fest entschlossen, das jetzt durchzuziehen, schreite ich hindurch.
Einfach irgendwo spontan und unangekündigt reinzuplatzen ist nicht meine Art, mag ich selbst auch nicht. Dennoch mache ich es, all die Szenarien mit dem SEK in meinem Kopf („Wer sind Sie?! SICHERHEITSDIENST!“) ignorierend und stehe mit einem Mal in einem schmalen hellen Gang. Vor mir befindet sich ein schönes verglastes Besprechungszimmer mit Getränken auf dem Tisch, rechts eine Tür, aus der Stimmen dringen. Vielleicht eine Besprechung? Da mich das SEK noch nicht niedergeknüppelt hat und auch sonst keiner in diesem Bereich ist, suche ich nach einem weiteren Weg. Einen Empfang scheint es nicht zu geben, aber irgendwo muss es ja noch andere Räume oder Büros geben und so suchen meine Augen die Umgebung nach einem Weg ab, den ich weitergehen könnte. Schnell erkenne ich, dass vor dem Glasbesprechungszimmer ein Gang nach links führt, setze mich in Bewegung und hoffe, dass nicht alle in dem kleinen Raum im Eingang sind und es hinter dieser Ecke irgendwie weitergeht…
Meine Intuition hat mich nicht im Stich gelassen und ich befinde mich nach wenigen Schritten in einem Großraumbüro. (Anmerkung: ab zwei Plätzen ist für mich alles ein Großraumbüro… vermutlich ist die Größe einfach nur die eines „normalen“ Büros, denn so viele Mitarbeiter hat das Unternehmen laut Website auch wieder nicht…)
Noch hat mich keiner bemerkt. Aber ein Zurück gibt es nicht, ist keine Option. Also laufe ich ein paar Schritte auf den ersten Mitarbeiter zu und sage total geistreich und spontan: „Hallo!“
Er dreht sich um, scheint nur leicht irritiert angesichts der vollkommen fremden Person, die mit einem Mal wie aus dem Nichts aufgetaucht ist und neben ihm steht, grüßt aber zurück. Dankbar dafür, dass meine Stimme mich nicht verlassen hat, lächle ich ihn an und rede ebenso selbstbewusst und wie selbstverständlich weiter, erkläre kurz, dass ich meine Bewerbung abgeben wollte. Daraufhin ruft er seinen Kollegen, der am anderen Ende des Raumes sitzt und extra aufsteht und zu mir kommt. Ich wiederhole das Gesagte, da ich nicht davon ausgehe, dass ich laut genug gesprochen habe. Zum Glück finde ich spontan andere Worte für den gleichen Inhalt und ich bin froh, dass ich mich nicht so akribisch vorbereitet und einen Text auswendig gelernt habe. Das hätte den ersten Mann in meiner Nähe vielleicht doch etwas irritiert, wenn ich wie eine zurückgespulte Kassette geklungen hätte.
Der zweite junge Mann nimmt meine Bewerbung entgegen und ist meinem Gefühl nach auch erfreut darüber. Puh, Glück gehabt. Wir lächeln uns an, ich verabschiede mich und er wünscht mir einen schönen Tag. Ich drehe mich nochmal um, bedanke mich, wünsche ihm den ebenso, verabschiede mich auch von dem ersten Mann, der mich zwar etwas (skeptisch?) mustert, aber auch höflich verabschiedet… und gehe. Wie selbstverständlich biege ich um die Ecke, öffne die Tür, schließe sie, öffne die nächste, schließe sie und fühle mich mit jeder Treppenstufe etwas leichter.
Vielleicht war ich zu dreist. Vielleicht betritt man dieses Büro in der Regel wirklich nicht unangekündigt. Vielleicht hat das SEK aber auch gerade Pause. Jedenfalls habe ich es geschafft, meine Bewerbung persönlich abzugeben und bin mehr als glücklich, das gemeistert zu haben! Level up! Ich glaube nicht, dass irgendjemandem bewusst ist, welchen Weg ich in den letzten nicht mal 5 Minuten gegangen bin und welche Emotionen ich durchlebt habe. Ja, in solchen Momenten bin ich dankbar dafür, dass man mir meine innere Nervosität im Außen kaum bis überhaupt nicht ansieht. Die habe ich zum Glück in diesem Ausmaß auch nur in der allerersten und somit neuen, ungeplanten Situation. Und sie potenziert sich ins Unermessliche, wenn mir etwas wirklich wichtig ist.
Warum ich das alles mache und nicht einfach die Bewerbung wie vom Unternehmen gewünscht per Post verschicke? Nun, aus folgendem Grund: Ich bin überzeugt davon, dass es nie verkehrt ist, wenn man eine Bewerbung persönlich vorbeibringt. Das zeigt ein gewisses Engagement und man bleibt vielleicht beim ein oder anderen eher im Gedächtnis, wenn auch nur unbewusst. Und bei einem Unternehmen, welches in der heutigen Zeit noch eine Bewerbung per Post und nicht wie alle anderen via Mail wünscht, ist das mit Sicherheit ohnehin nicht verkehrt. Außerdem weiß ich dann, dass es wirklich angekommen ist.
Das einzige, was man mir nun ankreiden kann, ist der fehlende Poststempel. Aber vielleicht gibt es ja noch einen „Eingegangen-am-…“-Stempel? : )
Fun-Fact zum Schluss: Für diese Bewerbung habe ich versucht, die Normschrift zu lernen, welche Bauzeichner (vermutlich immer noch) in der Ausbildung erlernen, um die Adresse möglichst perfekt zu schreiben und nochmals zu signalisieren wie wichtig es mir ist, Bauzeichnerin zu werden. Letzten Endes (und nach drei versauten Großbriefumschlägen mit Papprücken) war ich zu perfektionistisch dafür und habe es „normal“ geschrieben, wenn auch um Längen schöner als mit meiner krakeligen Kinderschrift. Jedenfalls habe ich noch nie den Namen eines Mannes (des Chefs, nach dem das Architekturbüro benannt ist) so oft auf ein Blatt Papier geschrieben…
Nun liegt nun also meine zweite Bewerbung für eine Ausbildung zur Bauzeichnerin bei jemandem auf dem Tisch bzw. im (Mail)-Eingang. Eine dritte steht noch aus und telefonisch kann ich mich auch noch bei einigen erkundigen, ob sie 2025 ausbilden. Am 13.11. habe ich mein erstes Gespräch…
Ich versuche nicht daran zu denken, was passiert, wenn mir alle zusagen und ich die schwierige Entscheidung treffen muss, wo ich die nächsten 2-3-4-5… Jahre verbringen werde… ebenso ignoriere ich die leise Angst, was ich eigentlich mache, wenn mich gar keiner ausbilden will…
Well done, Lui!
Wow, deinen Text kann ich wirklich mitfühlen, ganz unabhängig vom Inhaltlichen lässt sich dein Erlebnis vielleicht mit der Metapher einer Achterbahnfahrt vergleichen. Sachlich nüchtern steht man davor und sagt sich als erwachsener Mensch: pah, was soll der Quatsch, völlig unnötig und dafür auch noch Geld ausgeben. Doch dann ist da auch noch das innere Kind, das mit leuchtenden Augen genau das will, einfach mal Spaß haben und dabei keine tiefere Sinnhaftigkeit verspüren wollen, als das, einfach nur der Freude an der Unvernunft nachgeben und etwas Aufregendes erleben. Und so begibt sich der eigene Körper seinem Schicksal und steigt ein in diesen ungewissen Ritt auf der Kanonenkugel. Das Ding setzt sich in Bewegung und die Angst weicht mehr und mehr der Aufregung und die Ungeduld wird schließlich zur Zerreißprobe, bis der Zug den ersten Sturz absolviert und die Fliehkräfte einen hin und her werfen, bis man dann jede Orientierung verloren hat und sich nur noch dem Rausch hingibt.
Alles, was gerade so in deinem Leben passiert, das Loslassen, das Neue und Unbekannte, die Berührungsängste, das Auf und Ab zwischen ‚Yeah’ und ‚OMG’, die Zweifel und die Hoffnungen, das Suchen und das Finden, all das spiegelt sich auch in so einem relativ simplen Vorgang wieder, wo es scheinbar ‚nur‘ darum geht, etwas Papierkram zu erledigen. Du hast dich tatsächlich auf einen Weg, auf deinen neuen Weg gemacht, und wer weiß schon, welche Auswirkungen diese kleine Anekdote auf deine Zukunft haben mag. Vielleicht wirst du dort einmal lernen und erfolgreich arbeiten und dich irgendwann daran erinnern, an diesen Blogbeitrag, an all die Emotionen, die du zu dieser Zeit empfunden hast.
Ich kann dir nur wünschen, dass du diese und weitere ‚Achterbahnfahrten‘ nicht nur fürchtest sondern auch genießt, denn am Ende einer solchen fahrt bekommt man meist das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht und man weiß, ja verdammt, das war es einfach wert! Von deinen bisherigen Lebenserfahrungen ausgehend hast du eigentlich schon immer irgendwann solche Punkte erreicht, wo du dich getraut hast, etwas Neues zu probieren und auch Altes dafür loszulassen. Woran man sich später wohl am meisten erinnert, ist der Weg dorthin, eben jene Transformation, die einen auch weiter gebracht hat. Und was die Zweifel angeht, sie sind nicht dein Feind, sondern beschützen dich vor allzu schnellen Entscheidungen, letztendlich aber kannst du deinem Bauchgefühl und auch deinem Herzen vertrauen: wenn es sich gut anfühlt, dann kann die Richtung nicht allzu falsch sein…
Ach ja, nur noch meine ganz bescheidene Meinung zum Text selbst: Ich fühle mich als Leser emotional total abgeholt und mitgenommen, du hast deine ganze Wahrnehmung in dieser Situation so wunderbar in Worte gepackt und so aus diesem unscheinbaren Geschehen einen kleinen spannenden Krimi werden lassen. Das ist für mich auch die Kunst des Schreibens… wie gesagt: Well done, Lui!
Observer
Wow, thx Observer für das schöne Feedback!
Ob die Achterbahnfahrt, wie du sie beschreibst, hier als Metapher passt, weiß ich nicht, denn gefühlt habe ich mich in dem Moment wirklich eher wie im Krimi (oder in einem Escape Room).
Bereits einen Tag später, mit etwas Abstand, waren diese Emotionen natürlich nicht mehr so präsent und ich war selbst überrascht, wie schnell das ging. Das zeigt wieder mal, dass kein Gefühl eben dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Das gilt sowohl für die eher positiven als auch für die eher aufwühlenden bis negativen.
Mein Text kam kurz nach diesem Erlebnis wie von selbst und hat mir wohl geholfen, das ganze etwas zu verarbeiten. Und ja, im Nachhinein kann ich das alles auch genießen und als „Teil des Weges“ sehen. ; )
Ich wollte das aber auch hier festhalten, weil es der Anfang von etwas Neuem in meinem Leben ist. Mir ist es wichtig, das hier im Blog stehen zu haben! : )
Damals, vor über 10 Jahren, habe ich ja auch einige dieser Geschichten zur Ausbildungssuche gepostet… die habe ich mir neulich auch alle durchgelesen. Da war die Ausgangssituation allerdings komplett anders und um Längen unsicherer. Ich bin wirklich froh, dass es heute nicht mehr so ist! Klar, die Angst und Panik und Unsicherheit sind in solchen „ersten“ Momenten nach wie vor da, aber eben nicht mehr so nachhaltig intensiv. Das alles ist auch etwas, das wieder verfliegt.
Und ja, Zweifel können einen manchmal beschützen oder warnen, aber nicht immer… sie können einen auch lähmen und handlungsunfähig bzw. träge werden lassen.
Ein Stück weit will ich mit einem Text wie diesem also auch aufzeigen, dass man manche Dinge einfach wagen sollte, selbst wenn sich erst einmal alles in einem sträubt und es sich zunächst besser anfühlt, nichts zu tun und das beängstigende zu vermeiden. Aber es ist nicht unbedingt besser… Es ist leichter, schafft aber leider auch sehr oft den Raum für noch mehr Zweifel und das bringt einen dann auch nicht weiter. Und ich will weiter! : )
Alles Liebe! <3
Deine Lui