Ich sitze im Bus und lese, bin voll im Flow, mitten in der Story. Und da passiert es… : Ich lese einen einzigen Satz, der mich vollkommen rausreißt. Mit einem Mal, völlig aus dem Nichts, merke ich, wie Tränen in mir aufsteigen. Ich versuche, ruhig zu atmen, einfach weiterzulesen, bis es irgendwann einfach nicht mehr geht. Alles verschwimmt aus einem Schleier aus Tränen und ich klappe das Buch zu. Sehe einfach nichts mehr. Die Leute im vollen Bus? Sind mir egal. Gucken eh alle nur in ihre Smartphones. Und selbst wenn, was soll’s? Ich bin eben gerade emotional. Und ich stehe auch dazu.
Dennoch bin ich, die immer so gefasst ist, selbst irritiert. Wie kann ein Satz in einem Kriminalroman, der rein gar nichts mit meinem Leben zu tun hat, mich so dermaßen berühren, dass ich vollkommen unkontrolliert beginne zu heulen?
„Mach dir keine Sorgen Mami, ich werde immer da sein.“
[Minette Walters – Dunkle Kammern]
Tja, die Person, die das gesagt hat, wurde ermordet. Das hat nichts mit mir zu tun und doch… irgendwie alles. Denn plötzlich frage ich mich: Was ist, wenn meine Mami irgendwann einmal nicht mehr da sein wird? Und selbst jetzt muss ich heulen, wie ein kleines Kind, was ich so niemals von mir erwartet hätte. Nicht in diesem Zusammenhang. Denn zum ersten Mal in meinem Leben wird mir wirklich spürbar bewusst, wie sehr ich eigentlich meine Eltern liebe. Und wie sehr ich sie vermissen werde, wenn sie eines Tages nicht mehr da sein werden. Und wie sehr mich dieser Gedanke ängstigt, wenn ich ehrlich bin. Alle werden sie irgendwann nicht mehr da sein… auch ich werde irgendwann nicht mehr da sein. Diese Erkenntnis nicht nur zu wissen, sondern auch emotional zu fühlen, trifft mich in diesem Moment und eine Weile danach richtig, richtig hart.
Ja, ich habe meine Eltern in meinem Leben weitaus weniger zu schätzen gewusst, als jetzt. Leser meines Blogs (und meiner zum Teil sehr kritischen „Familienbriefe“, die ich hin und wieder verfasst habe) wissen, dass ich meine Eltern stellenweise sogar wirklich gehasst habe. Weil ich zeitweise nicht leben wollte, sie an meiner Existenz Schuld waren und eigentlich, weil beide nie so liebevoll zueinander waren, wie ich es mir gewünscht bzw. es als Kind gebraucht hätte.
Ich war daher ein Kind, das sich eine Scheidung gewünscht hat und ein extrem undankbarer Teenager. Und auch, wenn meine Eltern und ich uns über die letzten Jahre immer näher gekommen sind, bin ich eben eher ein Distanzmensch. Möglichst wenig nahe Beziehungen. Möglichst selbst entscheiden, zu gehen. Aber eigentlich, wenn ich ehrlich bin, habe ich eine Scheißangst davor, dass meine Mum eines Tages nicht mehr da sein wird und mir zwei Bio-Äpfel und andere liebevoll ausgewählte Kleinigkeiten mitgibt. Immer mit einer unglaublichen Begeisterung für schöne Dinge. Weil sie mich liebt und mir etwas Gutes tun möchte. Oft fühle ich mich dann etwas schlecht und schuldig deswegen, weil ich denke, dass ich ihr einfach nicht so viel zurückgeben kann… ich nehme auch nicht alles an, bedanke mich aber so herzlich ich es eben kann. Aber es drückt bei weitem nicht die Dankbarkeit und die Liebe aus, die ich jetzt gerade in diesem Moment empfinde (und wegen der ich eben so heulen muss wie ein kleines Kind). Vielleicht reagiere ich aber auch so emotional, weil wir heute zu dritt – Mutter, Vater, Kind – einen echt schönen Tag hatten…
Und ja, so hart es auch für mich gewesen ist, das Kind von zwei Menschen zu sein, die ich nie als Partner wahrgenommen habe… aus heutiger Sicht bin ich dankbar dafür, genau diese Eltern zu haben, weil sie mich auch zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin! Beide haben sie gewiss sehr viele „Fehler“ begangen, sowohl in meiner Erziehung, als auch in ihrer Beziehung zueinander. Aber oft weiß man es nicht besser… manchmal kann man es aber auch nicht besser… und das sehe ich heute mehr denn je.
Deshalb bin ich froh, dass meine starke Mum so lange durchhält, obwohl sie es trotz des „schönen Lebens“, das man ihr von außen oft zuspricht, dahinter gewiss nicht leicht hatte und hat. Sie hat sich vieles auch anders gewünscht, was (leider) die meisten übersehen… Ebenso sehe ich das Leben von meinem Dad und dass er, so viel er auch hat schleifen lassen und so sehr er auch die meiste Zeit „geflüchtet“ ist, kein bösartiger Mensch ist, der die Dinge aus purer Absicht getan hat.
So haben beide ihre Fehler und Defizite, so wie ich sie ebenfalls habe. Sie beide sind Menschen, so wie ich es auch bin. Und sie beide sind trotz alledem wundervolle Menschen! Und das sollte ich ihnen einfach öfter sagen.
Danke…
aus heutiger Sicht: DANKE, dass ihr mich in diese Welt gesetzt habt.
Danke… für einfach alles!
Ich liebe euch… mehr denn je!
Wow… 🙂
Dazu fällt mir so einiges ein, z.B. diese oft 'zitierte Weisheit': "Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der andere stirbt."
Hass und Wut sind extreme Emotionen, die vielleicht von aussen getriggert werden (ob nun berechtigt oder auch nicht), aber ihr Wesen ist meist in uns selbst zu finden. Es lohnt sich, diesen Gefühlen auf den Grund zu gehen und dabei die Ebene der Oberflächlichkeit zu durchdringen und zu den wahren Emotionen zu gelangen, die sich oft dahinter verbergen. Meist weiß der Kopf längst darum, aber es dauert dann doch noch eine lange Zeit, bis auch das Herz und die Seele bereit dafür sind. Im Kern geht es um Selbstliebe und sich selbst anzunehmen, wie man nunmal ist. Erst wenn man das kann bzw. dazu bereit ist, gelingt das auch bei anderen Menschen. Wie kann man andere lieben, ihnen mit Verständnis begegnen und ihnen ihre 'Unvollkommenheiten' verzeihen, wenn einem das bei sich selbst nicht gelingt? Es ist kein leichter Prozess, aber er führt zu einer Erkenntnis, die einen von einer großen inneren Last befreien kann …
"Hass kann nur durch Liebe überwunden werden." M.G.
Diese Liebe, die jeder in sich finden und sich selbst und anderen geben kann, ist ein wunderbares Geschenk des Lebens, das wirklich mehr wird, wenn man es miteinander teilt.
Dieser Blogeintrag von dir ist in seiner Bedeutung wohl der schönste von allen, die ich bisher gelesen habe. Und es ist wirklich schön zu sehen, wie ihr immer mehr aufeinander zugeht und auch zueinander findet, dafür ist es nie zu früh … <3