Flora

Ich betrete den fast leeren Bus und genieße die Vorteile, wenn man ein paar Haltestellen vor einem Knotenpunkt einsteigt: kein Gedränge und freie Platzwahl. Einer Intuition folgend setze ich mich in einen Vierersitz entgegen der Fahrtrichtung. Scheinbar will etwas in mir im Laufe der Fahrt jemandem gegenübersitzen. Ja, obwohl ich eher menschenscheu bin, lasse ich es mir offen, gebe quasi dem Zufall oder Schicksal (oder wie man es nennen mag) diese Chance.

Ich sitze also da, genieße die Ruhe vor dem Sturm und widme mich dem Lesen eines Buchs. Bereits zwei Stationen weiter hält der Bus am Bahnhof und dutzende Menschen strömen hinein. Vorbildlich nehme ich meine Tasche von dem Sitz neben mir auf den Schoß, lese weiter und blicke ab und zu auf. Einige halten vor mir inne, gehen dann aber doch weiter nach hinten. Am Ende sitzt mir überraschenderweise dann doch niemand gegenüber. Vielleicht liegt das auch daran, dass die wenigsten Menschen alleine unterwegs sind, so wie ich, und eher zusammen und unter sich sitzen wollen?
Ein paar Haltestellen später setzt sich mir dann doch eine Frau gegenüber, die ich auf ungefähr 80+ schätze. Sie lächelt mich so offen, befreit und positiv an, was mich sofort mitreißt und ebenso breit zurücklächeln lässt. Als ich weiterlesen will, wünscht sie mir frohe Ostern, wofür ich mich bedanke und ihr ebenso ein frohes Ostern wünsche. Unser gegenseitiges Anlächeln reißt auch nicht ab, als ich den Blick wieder in mein Buch richte. Ja, ich lächle immer noch, als ich weiterlese. Irgendwie strahlt sie etwas unglaublich Schönes aus und so dauert es nicht lange, bis wir dann doch ins Gespräch kommen und ich mein Buch irgendwann zuklappe. Wir blicken aus dem Fenster und sehen die Landschaft an uns vorbeiziehen. Freuen uns über den Regen, den die Natur so dringend gebraucht hat. Sind dankbar dafür, wissen um die Herausforderungen, vor die die klimatische Veränderung uns Menschen stellt. Darüber kommen wir dann zu Gott bzw. sie spricht ihn an, immer wieder. Und wer mich kennt, der weiß, dass ich damit nichts anfangen kann. Normalerweise baut sich in mir eine Barriere auf, wenn jemand so oft von seinem Glauben spricht. Bei dieser Frau, die sich mir später als Flora vorstellt, ist das komischerweise nicht so, obwohl sie in den folgenden zwanzig Minuten noch viel von ihm sprechen wird, ihn immer wieder mal einfließen lässt. Aber während mir das bei den meisten Menschen sehr schnell unangenehm wird, fühle ich mich bei ihr nicht so. Sie stellt mir auch keine Fragen zu meinem Glauben, versucht mich nicht zu bekehren, weil ihr selbst ihr Glaube so viel gibt. Irgendwie fühle ich mich durch ihre Zurückhaltung von ihr total akzeptiert und es scheint vollkommen egal zu sein, ob ich nun selbst an Gott glaube oder nicht.

Ihre Art fasziniert mich aber auch von Anfang an. Ihre Falten wirken so gar nicht „alt“, sondern verleihen ihr eine unglaublich ausdrucksstarke Mimik und Gestik, was ihren Erzählungen eine Lebendigkeit verleiht, die mitreißt. So fühle ich mit, als sie von ihrer harten Kindheit in Rumänien auf dem Bauernhof erzählt. Ich verstehe absolut, warum sie die Schulzeit so genossen hat, weil die Schule ein Ort war, wo sie endlich entspannen konnte von der Pflege ihrer Mutter und dem Behüten ihrer Geschwister. Ebenso ausdrucksstark erzählt sie dann von ihren drei Söhnen und ihrem kleinen Enkelkind, das ihre Augen geerbt hat. Sie erzählt von allem und nichts… Von ihren Krankheiten, die sie besiegt hat. Von ihrer Dankbarkeit (v.a. Gott gegenüber) bei all dem, was ihr so widerfahren ist.
Während sie spricht, sieht sie mir kaum in die Augen, blickt viel öfter aus dem Fenster. Und dennoch entsteht eine Verbindung. In die Augen sehen wir uns nur, wenn sie mich direkt anspricht, ein wenig über mein Leben wissen möchte. Vermutlich will sie mich ebenso zum Erzählen animieren, aber mir ist eher nach zuhören, was auch vollkommen in Ordnung ist. Mir ist wirklich schon lange nicht mehr eine so angenehme und liebenswerte Person begegnet!

Nur mit „Gott“.. ja, damit komme ich nicht so gut klar bzw. ist „Gott“ einfach nicht meine Welt. Und dabei bin ich gewiss kein Atheist oder Agnostiker. Ich glaube ja nicht an „nichts“. Ich glaube nur… anders? Ich mag nicht die typischen Glaubensrichtungen, die einem etwas vorschreiben, wie man zu denken, was man zu lesen und wie oft man zu beten hat. Ebenso mag ich die Verherrlichung von Jesus als Erlöser und als Antwort auf alles nicht…
Woran ich stattdessen glaube? Mein Glaube richtet sich nicht an einer Person oder „höheren Macht“ aus, die leider sehr oft eine Anbetung voraussetzt. Ich glaube eher an so etwas Simples wie die Tatsache, dass vieles passieren muss, damit etwas anderes passieren kann… und dass uns irgendetwas vor Herausforderungen stellt, die wir meistern sollen und dass das in erster Linie weder positiv noch negativ zu bewerten ist. Schön ist jedoch, wenn man sie als Herausforderungen sehen und dem Positiven dadurch eine Chance geben kann, anstatt überall nur unlösbare Probleme zu sehen. Auf diese Weise glaube ich aber auch erst seit ein paar Jahren bzw. war das ein Prozess und kein „Aha-Moment“. Ich war die meiste Zeit meines Lebens gewiss kein Optimist.
Woran ich ebenso glaube ist Karma, auch wenn ich mich bei der Frage nach der Wiedergeburt nicht festlegen möchte. Aber ich empfinde es als einen schönen Gedanken, weil er einen dazu anhalten kann, anderen das Leben nicht unnötig schwer zu machen und wohlwollender/sanfter/bewusster zu sein. Ich glaube auch an menschliche Entwicklung. Und an eine Art Karma, das einen auch im jetzigen Leben einholen kann. Würde ich mich einer Religion zuordnen, so wäre vermutlich die Demut des Buddhismus noch am ehesten etwas, das meiner Denkweise bzw. meiner Definition von „Glaube“ und „Religion“ entspricht.
Aber im Grunde glaube ich wirklich nicht so wie andere. Ich bete eigentlich nicht zu etwas oder jemandem. Ich bete auch allgemein nicht. Es gibt Momente, da bitte ich vielleicht allgemein ins Off. Oder ich bin dankbar, erfreue mich etwas und sende auch diese Dankbarkeit ins Off. Aber nur für mich. Mein „Glaube“, falls man ihn denn so nennen mag, findet auch in keiner Gemeinschaft statt. Ich brauche dafür weder andere Menschen, eine Kirche, noch ein Buch, noch Verse, noch sonst etwas zu dem ich bete.

Flora ist da anders. Sie ist im Gegensatz zu mir überzeugt davon, dass beten zu Gott so vieles bewirken kann, während ich damit nichts anfangen kann. Dennoch faszinieren mich ihr Glaube und die positive Stärke, die ihr der Glaube und ihre Gemeinschaft geben. Ich weiß, dass sie gewiss nicht die einzige ist, die darin Halt findet. Ebenso sehr fasziniert mich in diesem Moment aber auch mein eigener Optimismus, meine eigene Form eines „Glaubens“ in einer so krassen Welt.
Obwohl ich also so ganz anders empfinde als Flora, fasziniert mich zugleich ihre Ruhe, wenn sie über Gott spricht. Da sind einfach keine Verurteilungsgefühle, keine Bekehrungsversuche zwischen uns. Es besteht einfach eine echte und ehrliche Akzeptanz, eine Verbindung zwischen uns trotz großer Unterschiede. Das ist etwas, das so unglaublich viel wert ist in einer Welt, in der jeder meint, jeden bekehren zu müssen, sei es nun religiös, politisch oder anderweitig…
Deshalb schreibe ich dies auch nieder. Weil es mir am Herzen liegt, so eine Begegnung zu teilen. Weil mir Menschen wie Flora am Herzen liegen, die einem das Gefühl geben, dass es okay ist, wie man ist!

Am Ende, als wir uns verabschieden, berühren wir uns einfach nur kurz, aber herzlich und sanft an den Armen, lächeln und wünschen uns eine schöne Zeit. Vielleicht sieht sie in mir jemanden, den ihr Gott geschickt hat. Ich sehe in ihr jemanden, der durch die Tür gegangen ist, die ich offen gelassen habe, als ich in dem Bus gestiegen bin. Vielleicht sollte es so sein, dass ich spontan gerade dort eingestiegen bin und somit noch freie Platzwahl hatte. Vielleicht sollte es so sein, dass ich spontan beschlossen habe, mich so hinzusetzen, dass mir auch jemand gegenübersitzen kann, dem beim „Rückwärtsfahren“ eventuell schlecht wird. Vielleicht hat mir das Leben Flora geschenkt, um mir Gedanken zu meinem eigenen „Glauben“ zu machen und letztendlich diesen Text zu schreiben… den vielleicht jemand liest, der sich weitere Gedanken dazu macht, die wiederum ihre Wurzeln schlagen. Bis irgendwo eine neue Blume wächst.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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