Die Sonne
Feierabend, der Tag ist geschafft! Mir fällt sichtlich ein Stein vom Herzen, als ich die Tür öffne und feststelle, dass es tatsächlich Wolken am Himmel gibt und es nicht einer jener verhassten Sommertage ist, die mir dank der Hitze jegliche Energie rauben. Im Vergleich zur gestrigen Hitze ist es sogar ganz erträglich und ich verfluche nicht wie sonst, dass ich heute mein kühles und mich schützendes zu Hause verlassen musste.
Insgesamt hat sich also an meiner Tendenz zum Sommerhass nichts geändert. Jedoch überstehe ich das ganze mittlerweile ganz gut, dank diverser Hilfsmittel. Ich verlasse das Haus somit nicht ohne folgende Gegenstände:
– ausreichende Medikamente (weil ich bei Stress anders dosieren muss und mich die Sonne schon mal maximal stressen kann)
– viel Sonnencreme (nichts unter Faktor 50)
– meine Schweisser-Steampunk-Sonnenbrille in meiner Brillenstärke, die mich vor dem hellen Sonnenlicht schützt, das mich psychisch die letzten Jahre stark belastet hat
– ein kleiner Regenschirm, den ich bei strahlendem Sonnenschein öffne
– ausreichend zu trinken
– ein Fächer, falls mir die Luft fehlt
Der Baum
Von meiner Arbeitsstelle aus begebe ich mich zur nahe gelegenen Bushaltestelle, die normalerweise der prallen Sonne ausgesetzt ist. Da es aber leicht bewölkt ist, muss ich diesmal weder die Straßenseite wechseln noch meinen Schirm aus den Tiefen meines Rucksacks fischen. Voller Freude darüber, dass der Sommer ein klein wenig Erbarmen mit mir hat, entgeht mir beinahe ein bizarrer Anblick von etwas Großem aufgetürmten hinter der Bushaltestelle im Gras. Bei näherem Hinsehen realisiere ich, dass es sich dabei um einen Haufen aus großen und kleinen Ästen handelt.
In diesem Moment taucht die Sonne wieder hinter den Wolken auf. Mein Blick jedoch wandert erst einmal über den mit Zweigen und Blättern übersäten Boden und meint eine Spur zu erkennen, die zur anderen Straßenseite führt. Mit einem unguten Gefühl folge ich diesem Wink mit den Augen und sehe zunächst auf einen Schatten, der gestern noch größer war. Viel größer. Den Grund dafür erkenne ich, indem ich aufblicke:
Es ist keine 24 Stunden her, da stand ich dort drüben auf der anderen Straßenseite, in jenem großen Schatten eines großen Baumes und habe auf den Bus gewartet bei über 35 Grad. Durch die Länge des Schattens konnte ich mich perfekt in seiner Baumkrone platzieren und so den Bus rechtzeitig erspähen, um die Seiten zu wechseln.
Beim Gedanken daran, dass ich dies gestern zum letzten Mal in meinem Leben getan habe und es niemals wieder so sein wird, überkommt mich eine tiefe Trauer. Tränen laufen mir leise über die Wange. Tränen über die Ungerechtigkeit, dass gerade dieser Baum das Opfer des gestrigen Gewittersturms wurde.
Es ist, als hätte ich einen Freund verloren. Einen großen stillen Freund, dessen Blätter nie mehr im Wind wehen werden und der mir nie wieder einen kühlenden Schatten spenden wird. Der mich nie wieder beschützen wird.
Ich habe mich kaum getraut, das Bild zu machen, denn es erschien mir so pietätlos. Als würde ich ein nacktes, schutzloses Lebewesen präsentieren wollen. Aber ich hatte es versäumt ein Bild des vollständigen und gesunden Baumes zu machen und so bleibt mir nur die traurige Erinnerung.
Als ich aufgrund der Sonne dann doch die Straßenseite wechsle, kann ich mich nur langsam nähern, denn ich empfinde ein so tiefes Mitgefühl, dass es mir erneut die Tränen in die Augen treibt. Ich spüre sein Leid, seinen Schmerz, sein Ende.
Dennoch muss ich es tun, ich gehe auf ihn zu und lege sanft meine Hand auf den Stamm. Und in diese Berührung lege ich meine unendliche Dankbarkeit hinein für gestern und die Male davor, in denen er mich beschützt hat. Ich lege eine Entschuldigung hinein, dass ich ihn in diesem Zustand fotografiert habe und es versäumt habe, ihn früher zu fotografieren, ihn mehr wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ich lege alles an Liebe hinein und wünsche mir, dass er bleiben darf, wo er ist und dass er wieder zu Kräften kommt. Und selbst, wenn er nie mehr die Pracht aus Ästen und Blättern von einst präsentieren wird, ja selbst, wenn er mich nie wieder so beschützen kann wie zu jenen Zeiten vor dem Sturm, so wird er für immer mein Freund bleiben. Und deshalb widme ich ihm diesen Blogeintrag. Weil er es verdient hat.
Hallo Lui! 😉
Ein sehr schöner Beitrag zum Thema Wahrnehmung, Wertschätzung, Respekt, Mitgefühl – Empathie!
Um den schönen Baum ist es sicherlich sehr schade und es bleibt zu hoffen, dass er erhalten werden kann und sich jemand entsprechend darum bemüht. Mit dem Baum ist es wohl ähnlich wie mit vielen anderen Dingen im Leben auch, sie erscheinen selbstverständlich, weil man sich daran gewöhnt hat, weil man es gar nicht mehr anders kennt, weil man nicht (mehr) darüber nachdenkt. Erst ein plötzlicher Verlust macht einem das dann schmerzlich bewußt. So ist es mit der eigenen Gesundheit und der anderer geliebter Menschen, so ist es mit Frieden und Freiheit, mit Nahrung und sauberem Wasser, mit Verfügbarkeit von Energie und einem wärmenden Dach über dem Kopf, der Zuneigung eines geliebten Menschen, der Arbeit… Nichts davon ist selbstverständlich, nichts davon ist ein "Selbstgänger". Jederzeit kann etwas davon unwiederbringlich verloren gehen. Manches davon ist einfach Schicksal oder "Natur" und entzieht sich jeglicher Kontrolle, aber viele Dinge sind auch selbstverschuldet, Ignoranz und Provokation geschehen oft wider besseren Wissens.
Vielleicht wird nun der eine oder andere Leser sagen: "Meine Güte, es ist doch nur EIN Baum, sowas passiert halt". Nüchtern betrachtet mag das so sein. Aber ein Verlust lässt sich kaum objektiv bemessen. Ein Liter (Trink)Wasser, den ich hier zum Autowaschen ö.ä. verwende, mag in unseren Breitengraden keine große Bedeutung haben, aber derselbe Liter sauberes Trinkwasser in Zentralafrika hätte zweifellos eine ganz andere Wertschätzung. Genau hier zeigt sich ja das Problem mit der Wertschätzung bei Dingen, die man im Überfluß hat: Sie fällt eher gering aus. Ein Perspektivwechsel könnte einem das hin und wieder in Erinnerung rufen und den Dingen unabhängig von lokaler bzw. gewohnter Verfügbarkeit die Bedeutung zukommen lassen, die sie verdienen. Überfluß und Verfügbarkeit könnte man auch einfach als glückliche Fügung betrachten, als ein Privileg. Somit verstehe ich deinen Beitrag auch als "Plädoyer" für Dankbarkeit, Aufmerksamkeit, Verantwortung, Respekt und Demut.
Das gleiche gilt übrigens auch für die Sonne, denn ohne sie würden wir alle… 😉
Just my 2 cents <3