Wozu Diagnosen?

Ich beschäftige mich ja schon seit einer Weile mit dem Thema Autismus, wenn auch eher still für mich. Die Reaktionen meines Umfeldes auf die ersten paar Äußerungen, vielleicht selbst auch nur den Hauch von autistischen Zügen zu haben, gehen von „Nein, das bist du nicht, ich kenne Autisten!“, „Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf, den Zahn muss ich dir jetzt mal ziehen, denn du irrst dich!“ bis hin zu „Ähm… Lui… das trifft ja mal voll auf dich zu!“
Eine Zeitlang habe ich das Thema aufgrund der eher negativen Reaktionen auf die Seite geschoben… aber es ließ mich irgendwie nie so recht los und begegnet mir auch jetzt immer wieder und meinem Freund Observer ebenso. Die sehr offenen Gespräche, die wir so führen, haben mich jedenfalls zu folgenden Gedanken inspiriert bzw. hervorgeholt, was schon seit langem in mir ist und was ich bisher eher weggedrückt habe, weil ich einfach noch niemanden in meinem Umfeld hatte, mit dem ich auf dieser Ebene wertfrei kommunizieren konnte.

Laut einem Online-Autismus-Test bin ich jedenfalls bei 36 Punkten. Ab 32 ist man wohl im autistischen Spektrum…

 

Zur Zeit frage ich mich, wie gut mich eigentlich Menschen kennen können, an die ich mich bisher immer etwas angepasst habe. Natürlich weiß ich, dass ich dann selbst dafür verantwortlich bin, dass ich mich nicht so wohl fühle in Gesprächen… Aber manchmal kann man anderen einfach nicht erklären, wo das Problem eigentlich liegt oder was einen wirklich beschäftigt. Es geht einfach nicht. Es ist, als würde eine gemeinsame Ebene fehlen und als würden mir auch alle Worte und Mittel fehlen, um diese zu erreichen.

„Einige Menschen werden Deine Schwierigkeiten nur ernst nehmen, wenn Du eine Diagnose hast.“ [Asperger-Diagnose im Erwachsenenalter]

Was würde denn eine Diagnose für mich ändern? Natürlich nichts an mir als Person und an meinem bisherigen Lebensweg und all dem, was ich bisher erreicht habe. (Vielleicht würde es meinen Weg eher für mich aufwerten, weil es nicht selbstverständlich ist, dass man diesen durchhält.)

Was erhoffe ich mir also von einer Diagnose? Ich denke, sie würde mir die Bestätigung geben, dass ich mich in meinem Gefühl, einfach „anders“ zu sein, anders wahrzunehmen und zu denken nicht geirrt habe. Seit ich denken kann habe ich nämlich eine unglaubliche Angst davor, dass andere denken könnten, ich würde mir alles nur einbilden, da sie mir sehr oft dieses Gefühl vermittelt haben. Darunter zähle ich sowohl die ganzen Mobber als auch meine eigene Familie und meinen engsten Freundeskreis. Die letzteren meinen das natürlich nicht böse, das weiß ich. Sie wissen aber oft auch nicht, was sie mit ihren Worten manchmal bei mir auslösen oder wie sie mit mir umgehen sollen. Es kann auch nur ein mieser Moment von vielen schönen sein, die gut verliefen… oder ein Ausdruck, der bei mir härter ankommt als beabsichtigt… wenn jedenfalls etwas davon richtig wehgetan hat, dann bleibt diese Wunde bestehen. Ich kann sie zwar verdrängen, besonders wenn sie rational wohl „lächerlich“ scheint… aber ich kann sie nicht vergessen.

Meine einzige Diagnose ist ja bisher „nur“ ADS, womit ich mich aber nie zu 100% identifizieren konnte. Ich fühle einfach, dass das nicht alles sein kann bzw. erklärt. Diese Störung  gehört aber zum gleichen Kreis wie Autismus, da es sich bei beidem um eine Problematik der Reizwahrnehmung handelt. Das Gehirn bei Autisten und AD(H)Slern funktioniert einfach anders als bei „normalen“ (neurotypischen) Menschen. Oft treten die beiden Diagnosen auch zusammen auf, da sich die Symptome bis zu 70% überschneiden können. (Ein sehenswertes Video einer Autistin dazu: hier.)

Hochsensibilität ist ein weiterer Punkt in dieser Reihe von „anderen Wahrnehmungen“ und hat ebenso mit den Reizen zu tun. Hochsensible nehmen diese viel intensiver wahr, was es ihnen im normalen hektischen und lauten Alltag nicht immer leicht macht zurechtzukommen bzw. unglaublich viel Energie kosten kann. Durch Observer weiß ich, was das in etwa bedeutet und wie schwierig es ist mit der rauen Art der Welt zurechtzukommen (und kann das auch verdammt gut nachempfinden). Anders als Autismus und AD(H)S ist Hochsensibilität aber keine „Krankheit“. Allerdings kann sie auch bei diesen Diagnosen auftreten. Autistische Züge hat er jedoch genauso wie ich und bei uns beiden zieht sich das „Wrong-Planet-Syndrom“, also das Gefühl nicht verstanden zu werden, anders zu sein und auf dem falschen Planeten zu leben, so durch unser Leben…
Wir reden spaßeshalber immer davon, dass es manchmal einen Übersetzer geben müsste…: Observer-Welt, Welt-Observer und Lui-Welt, Welt-Lui. Ich schätze daher umso mehr, dass es zwischen uns kein Handbuch geben muss. Anfangs gab es zwar einige Missverständnisse, aber da wir beide so unglaublich gut miteinander kommunizieren können, am anderen interessiert sind und gleich ticken, hat sich das sehr gut eingependelt.
Dafür bereitet uns beiden die Welt manchmal Kopfzerbrechen, denn wie sich die ein oder andere Schwierigkeit äußert, ist für uns beide anderen gegenüber unglaublich schwer zu beschreiben. Das gilt besonders, wenn wir es den (überwiegend neurotypischen) Menschen erklären sollen, die eben nicht so empfinden und sich da so gar nicht reinfühlen können.
Es ist daher nicht leicht, einfach mal mit den ganzen Vorurteilen aufzuräumen und sie aufzuklären. Denn wo fange ich da am besten an?! Erst einmal: Autisten sind nicht alles Irre, die andauernd durchdrehen, vollkommen empathie- und gefühllos sind, ihren Körper nicht im Griff haben oder kaum lebensfähig sind, im Gegenteil! Einige fühlen sogar viel zu viel Empathie und sich extrem krass in andere rein, wovon sie sich abgrenzen müssen. Ebenso gilt das für Stimmungen. Einige autistische Kinder zum Beispiel nehmen viel extremer wahr, wenn die Eltern sich streiten. Weil das emotionale Reize sind (und sie ohnehin schon mit zu vielen Reizen und dem zwischenmenschlichen überfordert sind), können sie oft auch nicht verstehen, dass es nicht so wahnsinnig ernst gemeint und viel Ironie im Spiel ist. Das autistische Spektrum insgesamt ist seeeeehr breit gefächert und jeder Autist ist anders.
Ein Beispiel für einen Autisten, den wohl die meisten kennen und den jeder irgendwie lustig findet, ist Sheldon Cooper aus The Big Bang Theory. Aber wirklich so zu fühlen wie er (und ich kann das ein oder andere eeeeecht gut nachvollziehen) und all die Probleme bewältigen zu müssen ist dann noch mal eine andere Nummer.

Observer und ich kommen zwar gut mit Menschen klar, haben aber beide keinen besonders großen sozialen Kreis, in dem wir uns bewegen und mit diversen sozialen Situationen unglaublich große Probleme. Wir stellen uns ihnen zwar, haben aber unsere Tricks, wie wir sie bewältigen können. Entspannt miteinander irgendwo in einer Gruppe zu sitzen sieht anders aus…
Wenn ich bei meiner besten Freundin Maze bin und was los ist, suche ich mir zum Beispiel lieber eine Aufgabe wie Abspülen oder etwas anderes, das mich ablenkt. Auf der Toilette mehrmals durchatmen gehört für mich ebenso dazu wie für andere einfach nur dazusitzen und mit den anderen zu chillen. Die meisten wissen mittlerweile, dass ich da etwas schräg bin und wie schwer mir solche größeren Gruppen fallen. Dennoch versuche ich, möglichst unauffällig klar zu kommen und mich dem eben zu stellen.
Wie damals beim Tanzen in den Clubs. Es war für mich kein Weggehen mit Freunden, sondern eine Herausforderung, der ich mich stellen wollte. Der Takt war dabei mein Fokuspunkt, bei dem ich die vielen Menschen um mich herum ausblenden konnte.
Ebenso fand ich es immer wieder toll, mich mit Fremden im Zug zu unterhalten. Ich bin also gewiss nicht unkommunikativ. Vielmehr beschäftige ich mich schon seit langem mit „richtiger Kommunikation“ (Stichworte dazu: Schulz von Thun, Vera Birkenbihl, Paul Watzlawick,…), analysiere sie und brauche sie wohl auch mehr als neurotypische Menschen (was wiederum typisch für Autisten ist).

Leider habe ich das Gefühl, dass ich den wenigen Menschen in meinem Umfeld dennoch nicht so wirklich verständlich machen kann, dass ich nun mal anders bin und nicht mir einem „normalen“ Maßstab gemessen werden sollte. Sie wissen zwar vieles von mir und nehmen es hin, klar. Aber wir reden da nie drüber. Denn sobald ich einige Probleme auch nur andeutungsweise anspreche, vermitteln sie mir eher, dass sie nicht verstehen, warum ich mir das Leben so kompliziert mache. Dass ich nicht anders kann, können sie einfach nicht nachvollziehen. Im schlimmsten Fall höre ich dann raus, dass ich mich nicht so wichtig nehmen soll und dass meine Wahrnehmung nicht stimmt. Und das tut mir oft verdammt weh, was ich aber nicht kommuniziere, da ich kein Fass aufmachen will und mir denke, dass sie es ja nicht böse meinen und wohl nur nicht wollen, dass ich mich auf irgendwas versteife oder mich reinsteigere.
Ja, jeder Mensch ist anders… (was ich oft zu hören bekomme, wenn ich äußere, dass ich mich „anders“ fühle), aber dennoch weiß ich einfach von mir, dass ich noch mal eine ganze Ecke andersartiger bin und Schwierigkeiten habe, die andere nicht nachempfinden können. Sie glauben auch, dass das bestimmt besser wird mit etwas Übung. Ja, vielleicht. Vielleicht kostet es mich aber auch sehr viel Kraft, mich an eine Welt anzupassen, die mir fremd erscheint. Vielleicht will ich das einfach nicht mehr. Vielleicht hätte ich manchmal auch nur zu gerne das Selbstbewusstsein über all dem stehen zu können. Vielleicht würde ich einfach gerne ehrlich dazu stehen können, dass ich gewisse Dinge nun mal überhaupt nicht mag…
Zu viele Menschen um mich herum zum Beispiel.
Smalltalk.
Hedonismus.
Konsum.
Vorurteile und Schubladendenken (auch wenn ich selbst davon nicht immer frei bin…)
Geschenke, Geburtstage und Weihnachten.
Telefonieren.
Spontan mit Sachen konfrontiert werden, die mich aus meinem Plan werfen.
Ein schlechtes Gewissen, wenn ich feststelle, das mein Bedürfnis andere zu treffen geringer ist als ihres.
Einkaufen und Essen planen.
Etwas einfach mal spontan tun.
Dinge verstehen müssen, wenn ich gedanklich woanders oder emotional belastet bin.
Im Flow bzw. meiner Arbeit unterbrochen werden.
Mich anpassen, weil das nun mal zum Leben dazugehört und ich es muss.

Und es gibt Dinge, die ich einfach automatisch mache…
Zerdenken.
Ständiges sortieren und analysieren.
Rituale, Struktur und einen geregelten Ablauf schaffen und daran festhalten, weil ich unglaublich schnell Routinen verliere, wenn ich mich nicht diszipliniere.
Unsicher werden bei Veränderungen.
Reize intensiver und geballt wahrnehmen und nicht mit zu vielem auf einmal klar kommen können.

Und dann gibt es wiederum Dinge, die ich liebe…
Listen, Tabellenkalkulationen, Formeln, meine Buchhaltung.
Informationen sammeln und auswerten für Themen, die mich begeistern.
Die Analyse menschlicher Verhaltensweisen und Kommunikation.
Zug-/Busfahrpläne analysieren.
Zugfahren.
Schreiben.
Meine Ruhe.
Ordnung, Struktur, Dinge sortieren.
Wenn das Telefon aus ist. Und das Internet ebenso…
Und sehr tiefe Gespräche mit einer Person. Die funktionieren aber nur, wenn ich das Gefühl habe, dass mein Gegenüber mich ernst nimmt und Verständnis hat. Sobald mir jemand sagt, was ich zu fühlen habe oder auch nur ansatzweise das Gefühl vermittelt, dass ich mich nicht so anstellen soll oder ich mir alles nur einbilde, mache ich entweder zu oder gebe meinem Gegenüber recht bzw. passe mich an. Oder ich gebe voll contra, ziehe das aber ins Lächerliche aus Selbstschutz. Manchmal schweige ich auch, obwohl die Worte des anderen mich extrem verletzen. Ich kann das in dem Moment dann aber nicht sagen. Mir fällt das oft auch erst im Nachhinein auf. Und dann kann und will ich es einfach nicht mehr ansprechen, weil ich mich dem Gespräch nicht gewachsen fühle.

 

Mir hat mal ein Autist und AD(H)Sler auf einer Website einen Text weitergeleitet, den er jedem schickt, um seine Welt etwas besser zu erklären. Aus diesem möchte ich drei Zitate herausnehmen:

„Es ist halt eine Störung und keine Krankheit. Somit auch NICHT heilbar!! Ich kann halt nur durch Therapien die Auswirkungen mildern. Weil ich eigentlich in meiner eigenen Parallelwelt lebe in der ich super zurechtkomme…und dann Probleme bekomme wenn ich mich in die allgemeine Gesellschaft mit seinen Regeln und Maßstäbe einzugliedern versuche..Was mir meist nur kurz gelingt..weil es mich viel Anstrengung und Kraft kostet….“

„Ich lebe nur in meiner eigenen Welt, die sehr stark Schwarz/ Weiß geprägt ist und voller Widersprüche. Ich besitze auch ein eigenes Wertesystem. Ich bin im Gegensatz zu Sheldon fähig Gefühle zu verstehen und Ironie zu verstehen. Ich registrier sie aber ab und an nicht…“

„Ich erwarte nun auch kein Mitleid oder ähnliches.. nur Verständnis.. Dass ich viele Sachen mache, die vom „Normalen“ abweichen… Aber ich kanns leider nicht wirklich ändern…“

 

So, dies waren mal meine ersten paar Gedankenimpulse zum Thema, die ich schon seit einer Weile mit mit herumtrage. Und auch wenn sich einige meiner Mitmenschen jetzt anhand ihrer eigenen Aussagen mir gegenüber wiederfinden, ist es für mich wichtig, mich hier so mitzuteilen und nicht direkt und persönlich „irgendetwas zu klären“. Bitte versteht, dass das Schreiben einfach mein Metier ist, in dem ich mich frei und sicher fühle und besser mitteilen kann als von Angesicht zu Angesicht, besonders wenn ich unsicher bin. Und ich hoffe, dass ihr versteht, dass das hier kein Angriff sein soll, sondern nur eine Zusammenfassung, die vielleicht erklärt, was mir wirklich durch den Kopf geht und warum ich mich immer mehr zurückziehe. Es entspricht einfach mehr meinem Wesen.

Dies mag zwar ein etwas chaotischer Artikel zum Thema Autismus sein, aber ich habe mich auch sehr schwer getan, all das irgendwie verständlich zu formulieren. Für mich ergibt er nun Sinn, auch wenn sich das ein oder andere wiederholt und er kein typischer Fachartikel ist und stellenweise wohl der rote Faden fehlt. Ich habe jedoch  nach wie vor keine Diagnose und vorerst nicht in Planung mich darum zu kümmern. Es geht mir erst einmal nur darum, mich intensiver damit auseinanderzusetzen und meine Mitmenschen daran teilhaben zu lassen.
Gewiss wird das hier auch nicht mein letzter Beitrag zu solchen Themen sein. Ich habe auch das Gefühl, dass es immer mehr aufkommt und sich immer mehr Menschen irgendwie darin wiederfinden. Und sie machen das definitiv nicht, um sich irgendwie besonders zu profilieren. Man sucht sich die Schwierigkeiten nicht aus… man hat sie wirklich. Und klar sollte man was tun… als betroffene Person weiß man natürlich um die eigenen Defizite, mit denen man sich im Weg steht und dass alles einfacher wäre, wenn man nur „eben schnell mal etwas tun würde“. Aber jemandem das zu sagen fühlt sich für die Person an, als würde man einen Pinguin von der Klippe stürzen und ihn auffordern zu fliegen. Ohne externes Fluginstrument geht das nicht… und das ist es, was Autisten, AD(H)Sler und hochsensible Menschen brauchen, um ein Leben zu führen, das eben nicht nur aus Anpassung besteht… (falls sie es denn schaffen…und nicht depressiv an dieser Welt zerbrechen)
In der Regel brauchen sie einen Ort, wo ihre Fähigkeiten geschätzt werden und sich entwickeln können, denn viele nicht-neurotypische Menschen tragen ein unglaubliches Potential in sich. Und ich hoffe einfach, dass auch die Gesellschaft das immer mehr begreift und ihnen eine Umgebung schafft, in der sie funktionieren können. Leider ist das in dieser Welt einfach (noch) nicht selbstverständlich und ich weiß, dass ich unglaublich großes Glück habe, an so einem Ort arbeiten zu dürfen. Es ist also möglich!


Weiterführende Links Videos:

Kein Smalltalk, keine Lügen

Krauthausen (Sendung mit Denise Linke)

Wie hochsensible Kinder zu psychisch kranken Erwachsen werden

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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