Wer ich bin…

Das, was ich vor dir zu sein pflege, ist mit sicherer Bestimmtheit nicht das, von dem du annimmst, dass ich es tatsächlich bin. Vor dir spiele ich nur eine situationsbedingte Rolle…eine von vielen Rollen, die sich mit jenen summieren, die wiederum andere mir zuschreiben, vor denen ich wiederum jemand anderes bin (spiele?), was ihr jedoch nie erfahren werdet; auch nicht, wenn ihr dies durch das Lesen dieses Textes jetzt wisst.

Letzten Endes ergibt sich irgendwie durch eine unerklärliche Funktion und Aneinanderreihung imaginärer Zahlen mein Charakter. Ein verschwommenes nebulöses Nichts…oder auch ebenso das Alles der unendlich vielen Möglichkeiten, zu jeder Zeit ein jemand oder auch ein niemand zu sein. Das bestimme ich.

Weder ihr, noch ich, keiner wird jemals in den Zustand gelangen, mich zu verstehen….zu „kennen“…denn keinem ist diese Formel bekannt. Keiner weiß über meine Gedanken, meine Vergangenheit, meine Emotionen in diesem und im nächsten Moment bescheid. Keinem ist das verborgene Leid und Glück in mir bewusst; manchmal nicht einmal mir selbst…

Und im Laufe des Zeitabschnitts, in dem ich dies hier verfasse, bin ich wieder ein anderer Mensch mit neuen Erkenntnissen, neuen Ideen und Zusammenhängen. Ich bin jede Sekunde eine andere, kann von heute auf morgen verschwinden und all jene, die mich gekannt haben wollen, werden überrascht sein.

Denn all das, wie ich euch erscheine, euch meine Gedanken mitteile, all meine Macken und Ticks, all mein Wissen und meine Verrücktheit, ja auch meine Widersprüchlichkeit macht mich nicht zu einem beständigen Wesen und somit auch mit Gewissheit zu niemandem, den man „kennen“ kann…

Dennoch glaubt ihr, eure Feinde und Freunde, Liebhaber und Ex-Freunde, Vorgesetzte und Untergebene zu kennen. Ihr glaubt zu wissen, wem man trauen kann und wen man meidet. Doch woher nehmt ihr Menschen euch das recht heraus, über jemanden zu urteilen, den ihr – mit Verlaub – gewiss nicht kennen könnt?

Kennen ist nichts weiter als ein Wort, welches das Konstrukt einer Illusion kennzeichnet, welche auf den dürren, aber doch nahezu unzerstörbar fest(gelegt)en Beinchen der Einfachheit von Vorurteilen steht und ebenso Unterstützung in der fehlenden Bereitschaft der Menschen findet, sich von festgelegten Meinungen lösen zu wollen oder es gar zu können.

Der Mensch tendiert zu festen Aussagen, zur Einteilung in gut und böse, in gefällt mir und gefällt mir nicht, in Liebe und Hass. Und letztendlich ist dabei doch alles nichts und nichts alles. Alles ist relativ. Nichts beständig.

Das verwirrt, kränkt und zerstört…das ist das Los all jener Denker, die den Zustand des Seins längst überschritten und sich in Gebiete vorgewagt haben, die letztendlich nur den Tod als das einzig Sinnvolle und Beständige erkennen.

[inspiriert von dem Buch „Spieltrieb“ von Juli Zeh]

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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2 Kommentare        

Du liest Juli Zeh?
Die Frau is mir sehr sympathisch.
Du hast schon recht mit dem, wie du dieses ganze Spektrum anschreibst. Letzten Endes wird dir jeder intelligente Mensch auch sagen, das er seinen gegenüber nicht kennen kann. Aber in gewissen Momenten bei gewissen Menschen kann man doch sehr genau vorhersagen, was sie tun oder sagen, demnach kennt man sich. Wenn auch nur ein wenig.

Vorurteile hat jeder, nur sollte man positiv überrascht sein, wenn sie sich mal nicht bestätigen. Das passiert mir in der letzten Zeit immer seltener. Ich trete an jeden Menschen ohne Erwartung heran. Daraus kann etwas wachsen, ob gut oder böse.
Nur wenn ich z.B. Kollegen habe, die ich seit 2 Jahren fast jeden Tag um mich habe, muss ich mir gewisse Vorurteile bilden, die dann aber quasi belegt wahr werden.

Wie dem auch sei. Toller Text. Übrigens, wenn du wieder Facebook hast (hab ich gelesen) und mich adden möchtest: https://www.facebook.com/aethyel.thanatos?ref=tn_tnmn

Würde mich freuen. Kopf hoch, herzchen 😉

Lesen nicht direkt. Ich bin durch Zufall auf das Hörbuch aufmerksam geworden und habe es mir nun endlich mal angehört. Ich mag sie auch sehr und bewundere ihre Kunst mit Worten zu zielen und zu treffen!

Dieses „positive Überraschtsein“ können glaube ich nur wenige Menschen. Ich habe schon oft beobachten müssen, dass einige bei ihrem ersten Eindruck bleiben und anderen Chancen verweigern, die diese zweifelsohne auch verdient hätten…
Ich versuche nun schon seit geraumer Zeit, das Gegenteil zu praktizieren und gerecht zu werten…jedoch tauchen manchmal moralische Zwickmühlen auf und gefühlte Verpflichtungen in mir, die vorher nicht da waren.
Das mag bedeuten, dass Menschen mit Vorurteilen es sich wohl nur einfach damit machen…

Ich habe dich übrigens gefunden und dir eine Nachricht geschickt, da ich dir keine Freundschaftsanfrage senden kann

Keep ya head up, Großer. ; )

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