Eigentlich hätte ich an dem Tag etwas kaufen sollen. Aber ich bin nicht mehr dazu gekommen. Ich hatte im Hinterkopf ständig, dass ich Jo besuchen sollte. Es stand schon seit geraumer Zeit in meinem Terminkalender und mahnte. Aber ich konnte mich nicht aufraffen.
Doch wie es das Schicksal so will, lief mir ein Typ entgegen, der wie Jo aussah. Ich dachte mir, das könne er doch niemals sein, nie und nimmer. Der läuft nicht alleine am helllichten Tag durch die Stadt. Also lief ich ein paar Schritte weiter und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich drehte mich um und sah, wie der Mann durch die Bahnhofstür verschwand. Ich lief dennoch weiter. Blieb stehen. Dachte nach. Und drehte mich dann endgültig um und beschloss, dem Kerl einfach hinterherzulaufen. Und es war wirklich Jo, der sich an der Bahnhofsbäckerei ein Brötchen kaufte. Das überraschte mich und ich beobachtete ihn eine Weile, bis er wieder Heim lief. Ich folge ihm und lief sogar fast neben ihm, aber er erkannte mich nicht. Und als ich mit seinem Tempo nicht mehr Schritt halten konnte, trottete ich letztendlich so hinter ihm her. Ich dachte mir: ‚Gut. Umkehren scheint wohl nicht mehr drin zu sein, also ist einkaufen gestrichen.’ Ich meine, Jo in dem Moment zu begegnen schien mir wie ein Wink des Schicksals. Und so klopfte ich wenig später an seiner Tür.
Er sah schlecht aus, als er sie öffnete und war überrascht, mich da vorzufinden. Ich fragte, ob ich mich setzen dürfe, rauchte eine und wir führten eine Weile recht einseitigen Smalltalk. Er gab es natürlich nicht zu, dass was nicht stimmen könnte. Aber ich sehe es ja. Alle sehen es. Jo verlässt das Haus nicht mehr, Jo geht nicht mehr zu wichtigen Festen, Lina hat ihn mehr oder weniger sitzen lassen und ist vom Black Forest an den Bodensee gezogen. A. ist ebenso durch mit dem Alkohol… Und es tut weh, das mit anzusehen und zu wissen, dass Jo nicht mehr der ist, der er einmal war. Er stellt sich nirgends mehr mutig hin und diskutiert, er nennt mich nicht mehr enthusiastisch Claudia, obwohl ich so nicht heiße. Er ist am Ende, weg und wird nie wieder kommen. Alles, was ich von ihm habe, sind Tagebuchaufzeichnungen und die Gegenstände in meiner Erinnerungskiste für ganz besondere Menschen…und die Narben. Auf meinem Herzen. Er ist der Mensch, der mich am meisten geprägt hat. Er hat für mich alles verkörpert, auch wenn er keinesfalls perfekt war. Ich habe damals schon alles gegeben, um ihn zu retten. Er wollte es nicht. Jo war meine erste große Liebe, wenn man das so sagen kann. Verrückt, aber man kann es hier im Blog nachlesen. Kein Mann war mir mehr Muse als Jo.
Doch so, wie wir nun da saßen, wie einst vor Jahren scheint es, traute ich mich nicht, die Dinge offen anzusprechen und immer noch nicht nach dem „Warum“ zu fragen. Ich traute mich nicht, das „mir geht es blendend“ zu überhören und zur Sache zu kommen. Jo würde mich wohl sowieso entwaffnen mit seinen Aussagen. Er ist Säufer und ich seh’s ihm an, dass er sich minderwertig fühlt, seitdem er die Millionen verzockt hat und sich nun selbst für alles verachtet. Aber meine psychologischen Kenntnisse reichen eben nur soweit, dass man jemandem nicht helfen kann, der so resigniert hat und der sich auch nicht helfen lassen will. Er ist keiner, der auf die Knie geht und um Hilfe bettelt. Er ist ja der Steppenwolf…oder Tom Sawyer.
Ach, es ist einfach nur noch traurig um Jo…traurig, dass er nie wieder da sein wird…