Was man so „Interesse“ nennt… oder: der fremde Mann an der Bar

Eigentlich bin ich ein ziemlich scheues Wesen gegenüber Menschen. Es kommt aber oft vor, dass ich sehr tiefe Gespräche mit ihnen führe oder sie irgendwie dazu bringe, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Vermutlich habe ich etwas an mir, dass diese Offenheit begünstigt. Denn ich selbst gebe zwar auch etwas von mir preis, aber meistens reden die anderen. Mich interessieren aber auch Geschichten und Zusammenhänge immens und ich bin wahnsinnig neugierig…
Manchmal besteht mein Interesse an einer völlig fremden Person aber auch einfach nur darin, dass ich versuche mir vorzustellen wie es wohl ist, diese Person zu sein. Wenn jemand eine bestimmte Ausstrahlung hat, dann sauge ich quasi alles in mich auf, was ich wahrnehme,  achte auf Details und bin einfach nur fasziniert von dem, was ich sehe und von allem, was ich nicht weiß. Denn wenn mich alleine die Ausstrahlung und meine Gedankenspiele dazu in den Bann ziehen, sehe ich sie/ihn nämlich wie z.B. den Ich-Erzähler (m)eines ungeschriebenen Romans. Oder einen anderen Protagonisten.

Anbei dazu ein Text zu dem mich ein mir völlig unbekannter Mann inspiriert hat. Er war quasi (m)ein unbeschriebenes Blatt…


Was geht wohl in diesem Mann an der Bar vor, der mich versucht unauffällig beobachtet, seitdem wir ein kurzes Smalltalk-Gespräch ohne Erfolg geführt haben? Es war – wie so viele andere Gespräche dieser Art auch – ein Drahtseilakt zwischenmenschlicher Kommunikation zweier fremder Menschen. Eigentlich total belanglos. Eben der Versuch zu kommunizieren, gekrönt von der Feststellung, dass das wohl irgendwie gescheitert ist.

Und dennoch ist es mir im Gedächtnis geblieben und nun beginne auch ich, ihn zu beobachten. Er sitzt einfach nur locker da, leicht zum Gang hinter der Bar gedreht und seinem Gesprächspartner zugewandt. Ich nehme nicht mal wahr, was er trinkt, sondern nur ihn und die Art, wie er bestimmt und dennoch freundlich ruhig diskutiert und der Unterhaltung offensichtlich Aufmerksamkeit schenkt. Und trotzdem beobachtet er, was um ihn herum geschieht. Vor allem fällt mir auf, dass sein Blick oft an mir haften bleibt. Nicht anzüglich, obwohl ich wie immer beim Tanzen sehr leicht bekleidet bin. Sonst würde ich da gar nicht hinsehen. Er blickt mich eher anders an. Tiefer.
Er raucht wohl, was ich aber auch nicht so wirklich wahrnehme. Es ist mir es erst nach mehreren Stunden zufällig im Vorbeigehen aufgefallen, da er die Zigarette in der Hand hatte, die er lässig auf der Gangseite runterhängen ließ. Ganz routinemäßig hielt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger nach innen gewandt. Vielleicht unbedacht oder automatisch. Vielleicht aber auch, weil er die Vorbeigehenden in dem sehr engen Gang nicht mit der Glutseite versehentlich streifen wollte.
Ich bin öfters an ihm vorbei und wir haben uns nie (oder zumindest nie gleichzeitig) angesehen und schon gar nicht berührt, aufgehalten, erneut angesprochen oder abgelenkt. Als wären wir nicht da. Unsichtbar. Ohne scheinbares Interesse.

Doch scheint das nur scheinbar. Denn warum sitzt er eigentlich da wo er sitzt? Mir fast gegenüber? Warum unterhält er sich trotz der Lautstärke? Und über was überhaupt? Ist es Philosophie? Was Persönliches? Die Themen Politik oder Sport werden es wohl nicht sein, denn solche Gespräche führen Männer, die an der Bar einer Kneipe sitzen und trinken, meiner Erfahrung nach um einiges energischer. Wie schafft er es eigentlich so aufmerksam dem Gespräch zu folgen und dennoch wachsam und beinahe unbemerkt seinen Blick streifen zu lassen? Ob er merkt, dass ich das gleiche versuche aber das Gefühl habe, total unbeholfen damit zu sein und meinen eigenen Gesprächspartner nicht so angemessen zu würdigen?

Wenn sich unsere Blicke wie zufällig und doch magisch treffen, halte ich dem jedoch nicht lange stand. Fühle mich ertappt. Will einfach nicht, dass er das fälschlicherweise für ein vollkommen anderes Interesse hält. Denn vermutlich ist unser Interesse nicht dasselbe, auch wenn er mich anders ansieht als die anderen Männer. Mein Interesse gilt nämlich eher der Romanfigur, die ich in ihm sehe.

 

Und ich frage mich: Bin ich irgendwie verrückt, weil ich so eine scheinbar absolut unbedeutende Situation so extrem anders wahrnehme als vermutlich der Rest der Welt? Der Rest der Welt würde wohl meinen, da bestünde ein anderes Interesse. Ein Fiebern auf eine Fortführung des irgendwie misslungenen Gesprächs oder besser gesagt: auf überhaupt irgendein Gespräch von Belang. Vielleicht ist da auch die Hoffnung auf ein Date und wenn es passt auf eine gemeinsame Zukunft, wie man es doch immer gerne liest. Oder eben nur ein One-Nigt-Stand. Auf zumindest ein Kennenlernen! Auf irgendetwas Romanwürdiges mit Drama und/oder Happy End. Auf eine Geschichte! Aber da ist einfach nichts davon. Ich bin einfach nur fasziniert von dem Gedanken wie es wohl wäre, er zu sein und der Frage, warum er mich so ansieht und wer er sein könnte. Bin fasziniert von seinem Leben, das ich mir nur ausdenken kann, weil ich es nicht kenne und was er vermutlich weitaus unspektakulärer beschreiben würde, als ich es jetzt sehe oder mir vorstelle.
Und genau deshalb halte ich es einfach so fest. Denke mir meinen Teil. Lasse die Inspiration sprechen, vielleicht für irgendetwas Romanwürdiges, was dann eben als fiktive Geschichte/Roman so dastehen könnte.
Und natürlich bin ich mit diesem Gedanken voller Inspiration nach Hause gegangen.
Alleine.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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2 Kommentare        

Liebe Lui, ganz sicher bist Du nicht wirklich verrückt. Du hast eben eine sehr ausgeprägte Phantasie und Vorstellungskraft. Ich würde sagen, Du bist eine super Frau… Ganz liebe Grüße Siegfried

Vielen Dank, lieber Siegfried! : )

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