Ich frage mich zur Zeit, ob wir Menschen selbst eigentlich unsere Abgründe kennen. Unsere tiefsten und oft auch destruktivsten und abscheulichsten Seiten. Können wir es? Können wir ihnen sehenden Auges und bewusst ins Gesicht blicken, wenn wir uns im Spiegel betrachten? Können wir sie überhaupt erkennen, wahrhaben, annehmen, lernen mit ihnen umzugehen oder gar zu überwinden? Können wir es denn, wenn wir „mitten drin“ stecken oder sind wir zu verblendet dadurch? Sind wir überhaupt selbst dazu in der Lage, uns auf diese Weise zu hinterfragen, wo wir doch in uns gefangen scheinen und den Blick von außen niemals zu 100 % einnehmen können?
Wir Menschen können uns jedenfalls sehr gut etwas vormachen. Nicht nur gegenseitig, vor allem und in erster Linie uns selbst. Wir können gut fliehen, ablenken, kompensieren, verdrängen, herunterspielen, ignorieren,… uns unseren Süchten vollkommen hingeben.
Ja, wir Menschen sind nun mal nicht perfekt. Niemand ist es. Niemand ist auch nur gut oder nur böse. Wir sind immer beides und tragen auch beides in uns. Das macht es ja oft so schwierig, uns und andere zu begreifen. Wir sind einfach zu komplex. Es ist ja auch so viel einfacher, jemanden für seine Unzulänglichkeiten zu verachten. Er ist dann eben ein schlechter Mensch. Die Umstände sind egal. Vielleicht eine doofe Kindheit, viele Verletzungen in der Vergangenheit, ein paar falsche Abzweigungen. Egal. Das berechtigt keinen Menschen, anderen in irgendeiner Form Leid anzutun. Er hätte ja anders handeln können, also: Arschloch!
Aber was ist, wenn er es eben nicht kann? Was ist, wenn diesem Menschen gar nicht bewusst ist, welchen Schaden er mit seinem Verhalten anrichtet? Was ist, wenn er gar nicht in der Lage ist, so zu denken und zu fühlen? Was ist, wenn sein tiefer Abgrund für ihn selbst somit gar nicht erkennbar ist und dadurch auch allen ihm nahestehenden Personen das wahre Ausmaß des „Dunklen“, des Abgrunds in ihm, nicht offensichtlich erkennbar ist? Was ist, wenn dieser Mensch „normal“ scheint, weil er sich eben nicht in einer absolut unmenschlichen Art und Weise auffällig verhält? Was ist, wenn er ein so gutes und sogar authentisches Schauspiel vor sich selbst und anderen abliefert, dass das zu seiner Identität wird, parallel zu seinem „Abgrund“? Wie lange kann das funktionieren, bis irgendwann der Tag X kommt, an dem das eben nicht mehr funktioniert? Wie sehr driften in dieser Zeit der Abgrund und die vermeintliche Identität dabei auseinander? Wer ist eigentlich der Mensch, den man dann jahrelang zu kennen geglaubt hat?
Und… wer bin ich als nahestehende Person? Bin ich ein Opfer? Oder bin ich mitschuldig, weil ich nicht genau hingesehen habe? Kann man hier überhaupt von Schuld sprechen? Ist es denn eine bewusste Entscheidung von allen Beteiligten wegzusehen? Und wovon sieht man denn weg?
Das ist echt schwer zu beantworten. Ich bin der Überzeugung, dass (leider) vieles einfach „passiert“. Im Moment des Geschehens weiß man es nun mal nicht besser. Hinterher ist man dann schlauer. Hinterher sieht man auch die Anzeichen, die man vielleicht sogar wahrgenommen hat. Aber wir handeln eben nicht immer danach. Kinder schon eher. Die stecken noch nirgends so tief drin, haben einen anderen Blick auf die Dinge, hören viel mehr auf ihr Gefühl und sagen ihren Eltern auch mal knallhart „Lasst euch scheiden“. Aber es sind ja nur Kinder. Was wissen die schon von den Beziehungsproblemen der Eltern. „Wir streiten ja nicht. Wir diskutieren.“ Alles gut. Heile Welt.
Eigentlich müsste ich Kinder dafür lieben. Aber sie machen mir Angst und ich mag sie absolut nicht. Vielleicht, weil ich sie ernster nehmen möchte, als es so manch ein Erwachsener tut, es aber auch nicht kann. Ich weiß zwar zu gut, wie beschissen es ist, als kleines Kind nicht ernst genommen zu werden (und hinterher recht zu behalten…). Aber es sind nun mal oft verzogene Rotzlöffel. Und die können auch echt grausam sein…
Natürlich weiß ein Kind nichts von den Abgründen der Erwachsenen. Aber es ist um einiges sensibler für Unstimmigkeiten und äußert es auf seine Weise. Mit der Zeit verliert man diese Fähigkeit allerdings. Warum eigentlich? Wir sollten viel mehr lernen, diese Sensibilität anzuerkennen und damit umzugehen. Doch wir bekommen eher beigebracht, still zu sein, nicht jedem Gefühl in seiner Intensität nachzugehen und gleich loszupöbeln, „erwachsen“ zu werden, nicht zu nerven… Ironischerweise können die meisten Erwachsenen übrigens nichts davon bzw. treffe ich häufiger auf Menschen, die sich erst emotional irgendwo reinsteigern, ohne die Fakten zu kennen oder mit den betreffenden Personen zu kommunizieren und ihnen zuzuhören. Erst dann, irgendwann, denken sie (vielleicht) nach. Insofern würde es uns vielleicht wirklich mal ganz guttun, wenn wir von klein auf eher lernen, mit unserer sensibel angelegten Wahrnehmung umzugehen. Dazu gehört, dass wir unsere Gefühle ernst nehmen, aber eben nicht gleich raushauen, sondern ihnen nachgehen. Im Gespräch mit anderen.
Und wenn wir bereits erwachsen sind? Dann sollten wir uns öfter mal fragen, was wir da gerade eigentlich tun, ob wir das wirklich gut finden und was wir machen können, um uns selbst etwas mehr liebzuhaben und andere nicht zu verletzen. Vielleicht sollten wir es uns vor allem auch zu unserer Aufgabe machen, uns unseren Abgründen stellen. Immer wieder aufs neue. Denn Ehrlichkeit beginnt immer zunächst bei sich selbst. Wer zu sich selbst nicht ehrlich ist, kann es auch nicht zu anderen sein.
Das ist natürlich ein Widerspruch zu dem, was ich am Anfang geschrieben habe. Aber sowohl die Aussage mit der Ehrlichkeit bei sich selbst als auch die Tatsache, dass man sich seiner selbst eben nicht immer bewusst ist, stimmen. Doch was ist hier die Lösung?
Edit: In diesem Beitrag geht es nicht um meinen Freund Observer, sondern um andere Menschen aus meinem näheren und weiteren Umfeld. Observer hat gewiss auch seine Abgründe, ebenso wie ich, aber diese sind nichts Trennendes, denn es existiert eine „Brücke der Ehrlichkeit“ zwischen uns, an der wir beide arbeiten. Ohne diese ehrliche Brücke und eine ständige Instandhaltung von beiden Seiten sind in meinen Augen Beziehungen im Grunde sinnlos.