Zur Zeit stelle ich mir wieder einmal die Frage, ob und wie autistisch ich eigentlich bin. Ich erkenne mich einfach in zu vielen Merkmalen eines Autisten wieder und je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr Parallelen finde ich… das kann jetzt gut, aber auch schlecht sein. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass die Symptomatik irgendwie stärker wird, je mehr ich mich damit identifizieren kann. Ich habe auch etwas das Gefühl, mich zieht das alles in eine andere Welt, raus aus dieser. Das habe ich aber schon seit dem ersten Lockdown, in dem ich mich so abseits der Sozialkontakte wirklich verdammt wohl gefühlt habe. Aber ist das wirklich so schlecht? „Entsozialisiere“ ich mich etwa dadurch? Oder führt mich am Ende all das nicht vielleicht doch mehr zu mir selbst (Autismus kommt von autós = selbst)? Offenbart es vielleicht nicht einfach nur das, was schon immer da war?
Das sind zumindest einige der Fragen, die mich bei diesem Thema beschäftigen…
Zu diesem Beitrag hat mich jedenfalls das Video Subtile Merkmale von autistischen Frauen und Mädchen von Tom Harrendorf auf Youtube inspiriert, denn in den meisten der genannten 15 subtilen Merkmale finde ich mich ebenfalls wieder.
Was ich selbst definitiv kannte/kenne, habe ich in der folgenden Auflistung fett markiert.
Was vermutlich auch zutrifft, habe ich kursiv markiert.
Falls euch das Video mit den knapp 37 Minuten zu lang ist, habe ich euch jeweils auch die Stelle verlinkt, in der Tom Harrendorf den betreffenden Punkt anspricht. (Wenn ihr auf das Symbol ▶︎ klickt, öffnet sich YouTube und springt gleich an die passende Stelle im Video.)
- selektiver Mutismus:
▶︎ Das kommt bei mir vor in Gruppen (je mehr Menschen, desto stiller werde ich) oder in komplexen Gesprächen mit der Familie. Ich verspüre dann zwar ein starkes Bedürfnis, mich mitzuteilen, bin oft aber blockiert, weil ich keine Worte oder eine Kommunikationsebene finde. Es kommt auch vor, dass es sich im Nachhinein eigenartig anfühlt, wenn ich dann doch etwas gesagt habe, weil ich merke, dass ich mich nicht so ausdrücken konnte, wie ich es gerne hätte. Daher fühle ich mich im Schriftlichen um einiges sicherer und kann vieles besser in Worte packen als spontan mündlich.
Alles in allem empfinde ich mich aber als relativ offen, sogar offener Fremden gegenüber. Ich bin da zwar auch nicht extrovertiert laut, aber seltener stumm als die meisten anderen Menschen. spricht viel zu viel:
▶︎ Das trifft auf mich definitiv nicht zu…- nicht in die Augen schauen:
▶︎ Das Problem hatte ich eine Zeit lang in meiner späteren Jugend, habe es aber am Tresen in meiner Kneipenzeit gelernt. Mittlerweile habe ich da keine Probleme, auch wenn es mir in heiklen Gesprächen schwer fällt. Aber ich glaube, das geht nicht nur mir so. - fehlender Einsatz von Gestik und Mimik in der Kommunikation:
▶︎ Ich denke zwar, dass ich das Problem nicht habe, aber ich glaube, es gibt schon einiges, das ich nicht richtig oder deutlich genug ausdrücken kann. So kann es sein, dass ich ruhiger wirke, obwohl ich unglaublich viel fühle und innerlich angespannt/aufgewühlt bin. Darauf hat mich Observer gebracht, der mich ja mittlerweile sehr gut kennt und in einigen Situationen von außen beobachten konnte. Das spüren wohl allgemein eher die Menschen, die viel mit mir zu tun haben. - schlechte Motorik:
▶︎ Heute habe ich das eigentlich nicht… aber als Kleinkind hatte ich das wohl massiv. Sportlich war ich auch nie, aber den Ball konnte ich treffen. Nur im Werfen war ich immer mies… was aber daran liegen könnte, dass ich keine Kraft hatte… - Wahrnehmungsbesonderheiten:
▶︎ Überempfindlichkeit von Licht (besonders Sonnenlicht bzw. vor allem auch die Sonneneinstrahlung auf der Haut setzt mir zu),
Überempfindlichkeit bei lauten und aggressiven Stimmen (manche tun mir wirklich weh und in mir zieht sich alles zusammen…),
Unterempfindlichkeit von Schmerz (Ich habe mir vorletztes Jahr das Knie so aufgeschlagen, dass es später genäht werden musste, bin aber dennoch mit offenem Knie auf dem Tretroller die 2-3km zur Arbeit gefahren. Später habe ich aber auch kaum Schmerzen gespürt…),
… - niemanden an sich heranlassen, sich nicht trösten lassen:
▶︎ Als Kind weiß ich das mal wieder nicht… ich glaube, ich wollte schon gerne in den Arm genommen werden, aber konnte die Umarmung nicht wirklich „fühlen“. Auf mich als Erwachsene trifft das schon eher zu. Keiner muss mich trösten und mir ist das auch oft unangenehm. Es muss dann schon wirklich schlimm sein. Umarmungen mag ich immer noch am liebsten ganz fest, damit ich sie fühle und mich das auch wirklich runterbringt. Sanfte Berührungen machen mich in einer angespannten Situation oft eher noch angespannter. Das ist in dem Moment dann einfach nur ein störender Reiz. - die emotionale entspricht nicht der intellektuellen Reife:
▶︎ Das war früher auf jeden Fall so. Ich habe schon ein paar Mal gehört, ich sei schon „erwachsen“ auf die Welt gekommen. Intellektuell mag das durchaus zutreffen, aber emotional war ich definitiv lange Kind und unreif… Meine späte Jugend habe ich dann überwiegend am Tresen mit 40-50-jährigen verbracht anstatt mit Gleichaltrigen. - ausgeprägte Leidenschaft für eine Serie/Romanreihe/… (eher bei Autistinnen) bzw. Spezialinteressen (eher bei Autisten):
▶︎ Okay, mal ein kleiner Ausschnitt meiner „Freakinteressen“:
-> Tabellenkalkulationen:
– meine Buchhaltung (in die ich alle Einkaufszettel nach Kategorien abschreibe und die mir auf den Cent genau sagt, was ich im Geldbeutel habe)
– Telefonzeiten mit Observer (Wir haben seit dem 5.8.20 9 Tage, 14 Stunden und 16 Minuten telefoniert…)
– wann mir welche Pillen ausgehen (Ich nehme 6-7 Tabletten und eine Spritze pro Tag und muss den Kram per Post alle par Monate bei der Uniklinik bestellen. Da muss man das irgendwie einschätzen können, wann was ausgeht und wie viel man bestellen muss, damit es bis zum nächsten Quartal reicht.)
– die Jobs auf Arbeit
– die monatlichen Ausgaben meines Chefs
– meine Überstunden/Urlaubstage
– meine Homeofficearbeitszeit
– alle meine Bücher (inkl. Regalbezeichnung, Kategorie,…)
– diverse Objektlisten aus Games
– diverse Berechnungen zu allem möglichen Scheiß…
– eine Liste über die Anzahl meiner Wäscheklammern (die aber nicht mehr aktuell ist)
– …
-> An Spezialinteressen habe ich zusätzlich dazu auch noch so einiges:
– Ich kann stundenlang Zeug optimieren/ kategorisieren/ sortieren/ erfassen, sowohl digital mit Daten/ Bildern als auch im real life Legos, Schrauben, Bücher etc. …
– Ich habe ein System für die Essenplanung bestehend aus einer zweiwöchigen Wandtafel und Karteikärtchen, auf deren Rückseite die Zutaten stehen, die ich für das Gericht kaufen muss. Immer kommt es nicht zum Einsatz, aber in stressigen Momenten rettet es mir echt den Arsch, weil ich das dann nicht mehr anders hinbekomme, als Kärtchen rumzuschieben.
– Und natürlich (voll das Klischee…aber…): Ich mag Züge! ; ) Also auch Zugfahrpläne…
– … - das Auftreten bei Autistinnen ist eher „schlicht“, fast schon knabenhaft:
▶︎ Mittlerweile ja. Ich schminke mich max. 1x im Monat. Früher habe ich mich viel mehr geschminkt. Das war quasi mein Spezialinteresse und fast schon Kunst. Heute bin ich pragmatischer… auch wenn mein Auftreten auch krass davon abweichen und sehr extravagant sein kann. - Anpassung bzw. der Versuch, ganz unauffällig zu sein:
▶︎ Trifft auf mich nur teilweise zu. Wer meine Weggeh-Outfits kennt, weiß, dass ich so was von gar nicht unauffällig damit bin… Dennoch ist mein Wesen unscheinbar, wenn auch nicht unbedingt angepasst. (Die Tendenz habe ich aber leider auch, vor allem bei dominanten Menschen, neben denen ich mich klein fühle und in Gesprächen unterlegen.) - wird immer wieder Opfer von Mobbing:
▶︎ Als Jugendliche definitiv auf den ersten drei Schulen (Grundschule, Realschule, Hauptschule). Später dann zum Glück nicht mehr. - Selbstverletzungstendenzen:
▶︎ Bis vor ca. 7-8 Jahren definitiv. Später dann nicht mehr, auch wenn ich in ganz ganz krass angespannten bzw. emotional aufgeladenen Situationen den Impuls wieder wie damals spüre. Allerdings gebe ich dem nicht mehr nach. In solchen Momenten hilft mir das Schreiben total. Oder eine ganz feste Umarmung von Observer. - Begleitstörungen wie Depression, AD(H)S:
▶︎ Ja, zu erstem neige ich und das zweite habe ich ja bereits diagnostiziert. - „anderssein“ als Gefühl:
▶︎ Oh ja! Das hatte ich schon immer… es stimmt zwar, dass wir alle – egal ob neurodivers oder neurotypisch – unterschiedlich und somit anders sind, aber bei mir fühlt sich das einfach noch mal … „anders“ an…
Tom Harrendorf hat das so schön treffend formuliert:
Das ist ein Gefühl [..], das hat man in sich. Man merkt es einfach.
Nachdem ich diesen Text hier verfasst habe, habe ich mir noch mal meinen Blogbeitrag Wozu Diagnosen? durchgelesen und festgestellt, dass sich echt vieles von dem, was ich damals geschrieben habe, in der oben stehenden Auflistung wiederholt hat. Das empfinde ich noch mal als zusätzliche Bestätigung, dass ich mit meiner Autismusvermutung nicht ganz so daneben liegen könnte.
Verunsichert haben mich bis jetzt ja die Aussagen von engen Freunden, die mich definitiv als nicht autistisch sehen, sich aber auch nicht so krass mit dem Thema beschäftigen und informieren wie ich oder eben nur ein paar Autisten kennen, mit denen sie mich vergleichen.
Ich merke auch deutlich, dass in vielen Köpfen immer noch das Bild eines Autisten ein sehr grobes ist oder in Extremen gedacht wird wie „bekommt gar nichts im Leben auf die Reihe“, „überhaupt nicht fähig zu sozialer Interaktion“, „dreht durch und hat sich nicht im Griff“ etc. Das trifft auf mich ja nicht zu, aber auf viele andere Autisten ebenfalls nicht!
Was alles jedenfalls neben den Kernsymptomen dazu gehören kann, habe ich ja oben schon angeschnitten. Ich werde mich aber auch noch etwas intensiver mit den „offiziellen Diagnosekriterien“ des ICD-11 auseinandersetzen, da ich vorhabe, das Thema mal bei meinem neuen Psychiater anzusprechen.