Wer bin ich eigentlich, wenn da keiner ist, der mich wahrnimmt?
Und wer bin ich, wenn da einer ist, der mich vollkommen anders wahrnimmt, und nicht so, wie ich von mir selbst denke zu sein?
Was geschieht also, wenn deine Wahrnehmung nicht mit dem übereinstimmt, wie ich mich selbst wahrnehme? Wessen Wahrnehmung ist denn dann die richtige? Ist es meine, weil ich „ich“ bin und mich selbst ja am besten kenne oder ist es (auch) deine, weil du mich quasi aus einem anderen (aus deinem) System heraus siehst und somit auf eine Weise wahrnehmen kannst, wie ich es nie könnte? Doch steckt in deiner Sicht auf mich denn überhaupt ein wenig Wahrheit oder irrst du dich womöglich, weil du mich ja eben nur in diesem Moment und von außen siehst und gar nicht mein ganzes Wesen mit all den Hintergründen erfassen kannst?
Was ist denn eigentlich das „Ich“?
Besteht es wirklich nur aus meinem eigenen Innen und Außen? Oder geben mir (auch) andere wie du zum Beispiel meine Identität (oder tragen zumindest einen Teil dazu bei)?
Denn wer bin ich, wenn da keiner ist, bei dem ich sein kann?
Die Teile meines Selbst oder: „Rollen“
Damals fand ich es immer sehr anstrengend, wenn da viele Andere waren, die mich aus unterschiedlichen Situationen und Lebenslagen kannten (über kurze oder lange Zeiträume) und daher ebenso unterschiedlich wahrgenommen haben. Es ist mir immer noch etwas unangenehm, aber um einiges besser verkraftbar. Mittlerweile bin ich mir selbst auch trotz meiner vielen unterschiedlichen „Rollen“ näher und somit ausgeglichener denn je.
Das bedeutet jedoch nicht, dass ich mich zwingend mit meinen Literaturkreis, meinen Lesern, meinen Eltern und diversen Leuten aus der Technoszene (die mich meist nur halbnackt vor dem DJ Pult rumspringen sehen) an einen Tisch setzen würde. Sicherlich gibt es da auch die ein oder andere Überschneidung und sehr interessante Begegnungen, aber unangenehm erscheint mir der Gedanke daran trotzdem, selbst wenn ich zu allem, was ich so mache, stehe.
Das bringt mich aber nun zu einigen Fragen…:
Wer bin ich eigentlich, wenn ich mich je nach Gegenüber und Situation anders verhalte, eine andere „Rolle“ einnehme und daher auch anders wirke? Wer von all diesen wirkenden „Ichs“ bin denn am Ende wirklich ich? Keins oder alle? Wer bin „ich“ in diesem Moment, in dem alles aufeinander trifft? Was kann denn dann wirklich „ich“ sein, wenn ich so vieles sein kann? Bin ich dann überhaupt ausgeglichen oder nur eine Blenderin, weil (auf meinem Fall bezogen) Sailor Moon, Klassik, Gothic, SM, Techno und Abstinenz eigentlich nicht zusammenpassen?
In der Regel ist es ja so, dass wir in den Köpfen der anderen kein allzu negatives oder verwirrend-verstörendes Bild von uns entstehen lassen wollen und daher gerne mal die düsteren oder unpassenden Abgründe unseres Seins verschleiern, verbergen und maskieren. Wir erzählen daher eher das Positive von uns oder das, von dem wir annehmen, dass es zu unserem Gegenüber bzw. zu der Situation passt. Das lässt uns dann oft sympathischer oder besser wirken und gibt uns neben der Verbundenheit auch ein Gefühl von Sicherheit und vielleicht sogar etwas Überlegenheit.
Im ersten Moment klingt das unglaublich falsch, aber ich persönlich gehe davon aus, dass das in vielen Fällen keine Absicht ist und nicht mal ein bewusster Prozess. Es ist vielmehr ein Automatismus, um jenen sensiblen, angreifbaren Teil in uns zu schützen oder unser Gegenüber eben nicht zu verstören.
Diese Art von Selbstschutz ist in den meisten Fällen ja auch gesund und vernünftig, sofern wir uns selbst damit nicht im Weg stehen, anderen gegenüber nicht verletzend handeln oder lügen, um besser dazustehen/ um uns einen Vorteil dadurch zu verschaffen.
Ich glaube, dass vieles von unserem Verhalten – also wie wir handeln, reden, miteinander umgehen – in den meisten Fällen gar kein bewusster Prozess ist, sondern sich intuitiv so ergibt. Ansonsten wären wir ja weit entfernt von einem „Ich“ und nur ein Schauspieler, der versucht seiner (aktuellen) Rolle nach Schema F gerecht zu werden und dadurch immer anderen etwas vormacht, oder? Und das will sich ja nun keiner vorwerfen lassen. Wir wollen in erster Linie ja auch so gemocht und geschätzt werden, wie wir sind.
Aber wer sind wir eigentlich?
Ich habe ja geschrieben, das wir situationsabhängig alle mehrere „Rollen“ besitzen. Das ist in diesem Fall auch normal und nicht so zu verstehen, dass man dann ein komplett anderer Mensch ist. Man lebt eben nur nicht alles von sich immer und bei jedem gleich aus, sondern nur einen Teil davon. Die meisten Menschen sind zum Beispiel auf der Arbeit anders als privat und selbst da unterscheiden sich die Kreise der Freunde je nach Interessen und auch die Familie nimmt einen noch mal anders wahr. Ebenso verhält es sich mit Fremden, die einen zunächst auch nur im jeweiligen Moment wahrnehmen und mit denen man auch nur das teilt, was beide Seiten interessiert und gerade einfach passt.
Die Wirkung auf andere
Als Mensch erziele ich im Grunde ja immer eine Wirkung auf andere, ob ich das nun beabsichtige oder nicht. Das mache ich selbst dann, wenn ich vor Konflikten davonlaufe, mich nicht mehr melde, versuche zu verschwinden.
Ob meine Wirkung auf jemanden nun die ist, mit der ich mich auch selbst identifizieren kann, oder ob sie eben eine vollkommen andere ist: Es ist immer eine da und der kann sich auch keiner einfach so entziehen.
Doch was ist nun, wenn mich ein Jemand so ganz anders sieht als ich mich selbst wahrnehme? Wer bin ich denn dann noch? Bin ich noch ich und damit so, wie ich denke zu sein? Bin ich dann immer noch meine Form und Vorstellung von mir (falls ich denn eine habe) oder ist diese Vorstellung womöglich eine Illusion gewesen, weil du mich eben anders wahrnimmst und das nun mal ebenso für meine Identität als Ganzes zählen kann, je nach dem wer du bist und wie ich zu dir und deiner Meinung stehe?
Deine Rückmeldung wird jedenfalls – ob ich sie nun annehme oder ablehne – immer eine Auswirkung auf mich haben und etwas auslösen. Wie diese aussieht hängt davon ab, wie ich deine Ansicht annehme. Es ergeben sich dann mehrere Möglichkeiten (die mir jetzt gerade einfallen; natürlich gibt es da noch mehr):
1. Ich nehme deine Fremdwahrnehmung an und lasse sie auch an mich heran. Selbst wenn mich deine andere Wahrnehmung zunächst verunsichert, setze ich mich dann doch mit deiner Aussage über mich und somit auch mit mir selbst auseinander. Das macht mich im besten Fall nach und nach zu einem gefestigteren Ich. Denn die Art, wie du mich siehst, kann auch wie ein Spiegel sein, der eben zurücksendet, was ich selbst aussende. Und wenn das manchmal widersprüchliche und verwirrende Signale sind, aus denen das ein oder andere zwischenmenschliche Problem entstehen könnte, werde ich es zur Kenntnis nehmen, vielleicht auch herausfinden, warum das so ist und was ich wirklich (aussagen) will.
Da ich deine Wahrnehmung nicht von Anfang an ablehne, lasse ich zwar eine Verunsicherung zu, die mich zunächst schutzlos macht und schwächt, aber ebenso lasse ich auch die Chance einer Veränderung und Verbesserung meines Selbst zu. Denn vielleicht hast du ja wirklich etwas an mir entdeckt, das mir bisher verborgen geblieben ist? Hast du mich vielleicht sogar durchschaut? Enttarnt? Erkannt, wer ich noch bin zwischen all dem diffusen, von dem ich denke, dass ich es wirklich bin?
(kurze Anmerkung: diese Variante funktioniert nicht mit jedem und am ehesten mit einer Bindung, die zulässt, dass man so offen darüber sprechen kann. Es gehört viel Vertrauen oder den Glauben an ein ehrliches Gegenüber dazu, um das annehmen zu können)
2. Ich nehme deine Fremdwahrnehmung zwar an, denke auch kurz darüber nach und stelle dann fest, dass ich mich damit wirklich nicht identifizieren kann. Situationsbedingt magst du das so sehen, aber auf mich als Ganzes bezogen irrst du dich, denn ich bin weitaus mehr als das, was du gerade von mir siehst. Im Idealfall kann ich dir das alles erklären und wir führen ein sehr konstruktives und verständnisvolles Gespräch. Im blödesten Fall aber willst du das gar nicht und lieber blind sein für den Rest von mir. Somit gibst du dich wohl wirklich lieber einer falschen Illusion von mir hin. Vielleicht kannst du aber auch nicht anders und es ist eben einfacher für dich, die Dinge und Menschen so zu sehen, wie sie scheinen, dir das alles zurechtzulegen und alles andere auszublenden, um diese Annahme zu stärken? Aber macht es das wirklich einfacher? Gibt dir das wirklich die Sicherheit, die du dir wünschst oder gibt eher das Muster, in dem du eigentlich feststeckst, dir diese Sicherheit?
3. Ich nehme deine Fremdwahrnehmung nicht an und wehre mich vehement dagegen, weil ich mich im Grunde irgendwie angegriffen und vielleicht auch ertappt fühle. Vermutlich würde ich mich anders verhalten, wenn nicht ein Funken Wahrheit in deiner Aussage stecken würde oder mich das Nachdenken darüber nicht zu einem Thema führen würde, über das ich mir keine Gedanken machen will. Also bin ich mir absolut sicher, dass du keine Ahnung hast und dich wohl irren musst. Denn ich bin überzeugt davon mich zu kennen und du bist ja nicht in der Position mir zu sagen, wer ich bin, denn du bist ja nicht ich! Du kannst es also gar nicht besser wissen.
Das alles ist wirklich nur sehr grob zusammengetragen und quasi die Erkenntnis, die ich im Umgang mit Menschen und im Beobachten gewonnen habe. Ich habe versucht, es ein wenig zu ordnen, schreibe aber schon seit Monaten an diesem Artikel und merke, dass es vermutlich nicht klarer wird, je öfter ich ihn umschreibe und über den Haufen werfe. Mein Ziel ist es, das irgendwann irgendwie klarer zu formulieren, damit es wirklich jeder versteht und nicht nach dem ersten Satz schon keine Lust mehr hat, weil es einfach zu abstrakt ist. Ich glaube aktuell muss man das wirklich lesen wollen und schon sehr an meinen Gedanken interessiert sein, um sich da durchzuschlagen.
Einige abschließende und zum Nachdenken anregende Gedanken und Fragen habe ich aber noch…:
Können wir uns jemals selbst begreifen oder die anderen, frei von unseren eigenen Gedankenspielen? Frei von Interpretationen und (Wunsch)vorstellungen?
Wie ist es denn einen Menschen zu begreifen? Ist es überhaupt möglich? Ist es erstrebenswert? Macht es uns nicht interessanter, wenn es da etwas Neues am anderen zu entdecken gibt und auch an uns selbst? Ist es nicht gar vermessen zu behaupten, man würde jemanden wirklich „kennen“? Binden wir ihn dadurch nicht an eine Rolle und ist es somit vielleicht gar nicht so gut, wenn wir so eine konkrete Vorstellung von uns oder den anderen haben? Schränken wir uns selbst nicht durch diese Vorstellung von einem „absoluten Ich“ ein und hindern uns daran, auch mal aus unseren Rollen auszubrechen und zu sein, wonach uns wirklich ist? Fällt es uns durch das Konkretisieren des anderen und die Vorstellung, die wir von ihm haben (wollen), nicht manchmal umso schwerer ihn wirklich anzunehmen?
Und obwohl auch all das logisch klingt, frage ich mich dennoch immer wieder, wo neben unserem bewussten Handeln und bei bei all diesen in uns unbewusst ablaufenden Prozessen und den ganzen Rollen in unterschiedlichen Situationen denn der wahre Mensch, das wirkliche Ich, steckt.
Was bedeutet es denn zum Beispiel authentisch zu sein und können wir das immer zu 100% sein? Aber ist denn eine 99%-ige Authentizität nicht ein Widerspruch in sich? Sind wir denn dann alles irgendwie Lügner? Wo ist die Grenze? Oder gehört einfach alles zu uns, also auch das Austesten und Ausleben neuer und komplett unterschiedlicher Rollen, das Bewusstsein über unsere grundlegenden Eigenschaften und das Verschweigen gewisser Dinge in gewissen Situationen? Gehören somit nicht auch unsere teils widersprüchlichen Handlungen zu uns sowie das Ergründen all dessen?
Ist die Entwicklung meines „Ich“ vielleicht einfach ein Prozess, der zwar nach und nach an Festigkeit gewinnt, aber dennoch immer etwas flexibel bleibt, sodass ich an jedem Punkt meines Lebens etwas über mich und andere dazulernen kann ohne in eine Sinnkrise zu verfallen?
Ich glaube so langsam immer mehr, dass das „Ich“ einfach fluid ist. Flexibel. Wandelbar. Im manchen ersten Momenten auch unberechenbar. Doch existiert unter diesem Aspekt denn überhaupt noch die Authentizität? Vermutlich, denn kann ein „Ich“ denn nicht auch ehrlich und authentisch sein, wenn es sich seiner Fluidität bewusst ist?