Ich hatte Freitagabend spontan beschlossen, meinen Freund zu besuchen. Und weil ich es ja so mag, die Menschen zu verwirren bzw. mich an ihren Reaktionen zu erfreuen, die von skeptisch bis fasziniert reichen, zog ich mich mal wieder sehr suspekt an mit Strapsen und Ähnlichem. Ich bezeichne das gerne als soziologisches Experiment, da ich ja eigentlich nicht (nur) das bin, was man von außen sieht.
In der Bahnhofshalle holte ich mir zunächst ein Ticket am Automaten, hörte Musik, tänzelte gut gelaunt herum, ließ mir Zeit und drehte mich dann entschlossen um, um nochmals auf den Fahrplan zu blicken. Dann sah ich auf einmal einen älteren Herren vor eben diesem Plan stehen, der mich verblüfft ansah. Der Moment des Erkennens war wohl ein kurzer, aber ein gefühlt langer und unendlich spannender. Die Halle war fast leer, es lag etwas Undefinierbares in der Luft, das die anderen interessiert zu uns rüberblicken ließ. Es ist dieser Moment, wenn alles offen ist. Du blickst zunächst in ein Gesicht, von dem du nicht ganz weißt, wer das ist. Aber du weißt ganz genau, dass du ihm schon mal auf deiner Journey, deinem Lebensweg, begegnet bist. Und wenn du genau das gleiche in den Augen und dem verblüfft faszinierten Ausdruck deines Gegenübers liest, wird dir auf einmal ganz warm. Auch wenn unsere vergangenen Begegnungen eher seltsamer Natur waren…
Wirklich sicher, wer er war, wusste ich erst nach einem Blick auf seine Papiertüte, mit der er schon damals vor sage und schreibe sieben Jahren herum gelaufen ist.
Wäre ich neulich beim Lesen meiner alten Einträge nicht wieder auf ihn gestoßen, so wäre ich vermutlich nicht wenige Sekunden später mit ihm über alles und nichts philosophierend auf einer Bank gesessen. Dass er mich überhaupt bemerkte, hatte ich in erster Linie jedoch meinem Outfit zu verdanken.
Er: „Verzeihen Sie mir dass ich Ihnen so auf die Beine sehe, aber ich bin ehrlich: Ich musste einfach stehen bleiben und konnte nicht wegsehen. Und ich war verblüfft, als Sie sich umgedreht haben und ich SIE erkannt habe! Mit Ihnen habe ich ja nun gar nicht gerechnet!“
Er schien so froh, mir nach all den Jahren wieder begegnet zu sein und ich war es auch, obwohl er auf mich wie eine sehr anstrengende Persönlichkeit wirkt, die sich mit Worten um einen stülpt und erdrücken kann. Zutexten würde ich diese Art zu kommunizieren nicht nennen, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass es auf manche Menschen so wirken könnte. Doch ich merkte, dass er nicht nur am Stück redete, sondern an meiner Meinung interessiert war und auch Fragen stellte. Das vermittelte mir unter anderem den Eindruck, dass er sich seiner Art selbst bewusst ist. Er lenkte auch oft höflich und charmant ein.
Teilweise fiel es mir zwar schwer, seinen abstrakten Gedanken zu folgen, aber es ist uns dennoch gut gelungen, keine Missverständnisse entstehen zu lassen und in einen sehr interessanten Dialog zu gehen. Ich konnte viele meiner Gedanken rüberbringen zu sehr elementaren Themen wie Kennenlernen, Beziehungsphilosophie, zwischenmenschliche Kommunikation, Ehrlichkeit,…in nicht mal 15 Minuten redeten wir wirklich über all das und mehr.
Ich hatte ihn ganz anders in Erinnerung als jemand, der nur für sich lebt, Menschen mit Abstand begegnet. Ich war wohl damals einfach noch nicht so weit oder auch er hat sich verändert. Aber ich vermute mal stark, dass vor allem ich einfach noch nicht so weit war, solche Gespräche mit ihm zu führen. Und ich bin wirklich so unendlich dankbar, dass mir das Schicksal und meine Beine so ein wunderbar inspirierendes Gespräch beschert haben!
Seit Tagen geistern mir Gedankenfetzen umher, die ich einfach nicht in Worte zu fassen vermochte und die jetzt und hier nun endlich die Wortwahl bekommen, die sie verdienen, weil sie für mich momentan die wichtigsten Gedanken sind, die mich umtreiben, meine Synapsen umschmeicheln, meinen Geist melodisch umspielen wie die taktvollen Anschläge der Tastatur, mit denen ich sie abtippe.
Er hatte folgende Beziehungsphilosophie:
Am Anfang des Kennenlernens sollte es eine Art von Ehrlichkeit geben, die enorm wichtig ist für eine gelingende Beziehung mit dieser Person. Viele Menschen verstellen sich unbewusst, wollen gefallen, spielen einiges runter, erwähnen anderes nicht. Sind nicht ehrlich zu sich selbst, versuchen sich anzugleichen, eben zu gefallen, und können daher auch nicht ehrlich zum Gegenüber sein. Damit meine ich nicht, dass sie sich Geschichten ausdenken und lügen, sondern einfach nur, dass sie nicht ganz sie selbst sind oder auch: sich ihrer selbst bewusst. Sie sind schon ein Teil von sich, verdrängen aber all die anderen Teile in sich, die auch dazu gehören. Dies geschieht wie erwähnt allerdings unbewusst und ist enorm schwer zu erkennen oder nachzuvollziehen. Mir ging es ja mit all meinen Dates und anderen schriftlichen Männerkontakten in den vergangenen zwei Jahren ganz genau so. Ich habe zwar im Nachhinein überall etwas rausgezogen und jede Begegnung als einen Teil meines Weges gesehen, der zu mir führt, war aber auch nie ganz ich.
Bis mir mein jetziger Freund begegnet ist. All das, was mir also der Mann mit der Papiertüte erzählt hat und was zum Scheitern einer Beziehung führen wird, konnte ich nun nachvollziehen. Er konnte mir aber auch nicht genau mit Worten beschreiben, was ich beim ersten Date mit meinem Freund gefühlt habe und jetzt immer noch fühle: Dieses wunderbare Gefühl, wirklich zu verstehen, sich zu akzeptieren und all die Teile des Gegenübers wirklich zu sehen und keines zu verdrängen, wegzusehen, schön zu reden. Da sind dann keine Interpretationen mehr. Da ist ein Wort, auf das Verlass ist. Da sind keine Missverständnisse, weil man sofort interessiert fragt und begreifen lernt, intervenieren kann, wenn man beim Gegenüber ein Unbehagen spürt.
Mir haben das schon einige Menschen versucht zu erklären, aber man kann es erst wirklich begreifen, wenn man erlebt wie es ist, wenn da keine Zweifel sind, keine schlechten Gedanken. Wenn man ehrlich sein kann und es auch immer schon war. Von Anfang an. Und eben DAS macht eine gelingende Beziehung aus. Die Unsicherheit eingestehen, überwinden und sich emotional nackt gegenübersitzen und so das wahre Sein des anderen lieben zu lernen.
Der Pinsel meinte anfangs mal zu mir:
nun, es ist schon etwas ganz unnachahmliches, etwas urintensives, sich ganz allein zu zweit so tief und fraglos gegenüber zu sein…
…wenn beide sich die richtigen sind.
Besser kann ich es nicht beschreiben. Mein Freund und ich sind das definitiv…
Wir sind uns die richtigen! : )
Da hätte ich gerne ein Foto von. Junge Frau mit Strapsen neben älterem Herrn mit Papiertüte auf einer Bahnhofsbank 🙂
Ja, man findet selten jemanden, mit dem man so schnell eine tiefe Gesprächsebene findet, obwohl man so unterschiedlich ist …
Ich beneide Dich für das Erlebnis! 🙂
Ja, das wird von außen auf den ersten Blick sehr befremdend gewirkt haben. Aber ich glaube die Leute haben sich eher über unser Gespräch gewundert. : )
Und danke,..ich mag solche Erlebnisse. Sowas passiert mir seltsamerweise aber auch hauptsächlich an Bahnhöfen…
Und wir beide sollten das irgendwann auch mal erleben, oder?
Sollte ich je eine Romanlesung haben, lade ich dich ein! Und zu deiner komme ich natürlich auch gerne. In der Ecke da oben war ich noch nie. : )