Die Abrechnung mit dem Alkohol(iker)…

Wie wäre ich, wenn ich wirklich ich wäre?
Ich würde euren verfickten Alkohol in den Abfluss gießen, die Flaschen gegen die Wand werfen und euch die scheiß Folgen in die Haut einritzen.

Ja, so kann ich denken in Momenten äußerster Wut. Schockiert euch das?

Ihr findet mich ruhig
Nett
Still
Liebevoll
Verständnisvoll
Aber keiner hört mir zu
Keiner hört meine Worte, die sich hinter all dem verbergen
Keiner spürt die Emotionen, die ich wirklich fühle.

Das sind zwei Ausschnitte meines Textes, den ich Anfang des Jahres im Wahn geschrieben habe, als ich erfahren habe, dass mein Vater auf der Intensivstation liegt und warum er da liegt. Betrunken die Kellertreppe runtergefallen… obwohl er eigentlich nicht mehr so viel trinken sollte nach seinem Schlaganfall…

Meine Worte richteten sich damals gegen mich, gegen euch, aber vor allem gegen den Alkohol. Gegen seine leeren Versprechen am Tresen, seine Ausflüchte, sein Herunterspielen, seinen unmerklich fortschreitenden Zerfall, seine Blindheit, seinen Hang zur Identität eines Menschen zu werden, bis ihm ein Leben ohne unvorstellbar wird…

 

Meine Meinung zum Thema Alkohol hat sich im Laufe der letzten Jahre schon sehr gewandelt. Ich war ja selbst zwischen 2008 und 2011 auf bestem Wege, Alkoholikerin zu werden und hielt lange an meiner Kneipenzeit fest, die einen Großteil dieses Blogs füllt. Aber es hat sich viel verändert seither.

Heute habe ich eine ambivalente Meinung zu dieser Zeit…
Zum einen habe ich damals echt verdammt viel erlebt und mitbekommen und bereue auch nichts davon. Ich bin äußerst interessanten Menschen begegnet und mich hat das alles auch ein Stück weit geprägt.
Zum anderen bin ich aber auch verdammt froh, nicht mehr am Tresen zu sitzen und zu denen zu gehören, die es „aus Spaß“ uncool finden, wenn einer nicht trinkt. Denn diese Menschen saßen vor zehn Jahren vor ihrem Feierabendbier und werden in zehn Jahren immer noch dort sitzen…

Ich merke besonders an ihnen, dass ich mich verändert und in eine ganz andere Richtung entwickelt habe, weit weg vom Drama, dem Kneipenwohnzimmer und betrunkenen Versprechen. Mir sind andere Dinge einfach wichtiger geworden. Unabhängigkeit zum Beispiel. Und meine zerrüttete depressive Psyche, die sich nun mal nicht durch Eigenmedikation kurieren lässt, sondern indem man sich dem Leben nüchtern stellt.

Mit der Zeit habe ich also immer weniger getrunken, bis ich mit der Einnahme neuer Medikamente beschlossen habe, komplett darauf zu verzichten und auch der Kneipengesellschaft aus dem Weg zu gehen. Ich konnte auch immer weniger die Augen verschließen vor jenen, die der Alkohol immer mehr in eine andere Welt zog… oft auch in den Abgrund… und manche bis in den Tod.

Heute sehe ich sogar noch schneller die Alkoholprobleme anderer, äußere mich aber nicht dazu… denn ich möchte absolut kein Moralapostel sein und auch niemanden verurteilen. Ich will so nicht sein und das entspricht auch nicht meinem harmoniebedürftigen Wesen. Wer mich kennt, der weiß, dass ich noch das gute im Menschen sehen will, versuche ihn und seine Beweggründe zu verstehen, während der Zug für andere längst abgefahren ist. Doch aktuell fehlt mir etwas das Verständnis…

So nett ich auch immer scheine… gerade ist da etwas in mir, das am liebsten jedem sagen würde, der lustige Sprüche zum Thema Alkohol von sich gibt oder mir von seiner letzten betrunkenen Nacht erzählt, dass ich das gar nicht cool finde und auch nicht wissen will. Klar sind die Geschichten lustig. Klar erlebt man alkoholisiert etwas. Aber wo zieht ihr bitte die Grenze? Könnt ihr gnadenlos ehrlich zu euch sein? Hättet ihr die Eier in der Hose in eine Kneipe zu gehen und keinen Alkohol zu trinken und eure Freunde zu animieren mitzumachen? Hättet ihr euch dann noch etwas zu erzählen? Könnt ihr auch ohne Alkohol lustig sein und lachen? Könntet ihr darauf verzichten zu trinken, wenn einem eurer besten Freunde der Alkohol zum Verhängnis geworden ist? Und wenn nicht… findet ihr das nicht verdammt traurig? Stand eure Freundschaft etwa nur auf dem brüchigen Fundament des Alkohols?
Ich bin der Meinung, dass sich der ein oder andere mal über sein Leben und welchen Stellenwert der Alkohol darin hat, Gedanken machen sollte. Jetzt mehr denn je…

Aber ich befürchte, dass es so kommt, wie es immer kommt… Man vergisst jene, die nicht mehr am Tresen sitzen, ob sie nun tot oder lebendig sind. Schlimmer noch: Man „ehrt“ sie, indem man weitertrinkt. Man verdrängt, dass der Alkohol ja vielleicht seinen Teil dazu beigetragen hat, dass dieser Mensch nicht mehr lebt. Man sieht weg, erkennt da auch keine Verbindung und trinkt weiter. Man ist auch nicht fähig, mit einem Menschen, der nicht mehr trinken sollte, umzugehen, außer ihm noch ein Bier anzubieten und selbst weiterzutrinken.

Ich könnte noch direkter sein… Ich könnte euch, die ihr euch die Freunde meines Vaters nennt, beschuldigen. Nicht, dass er den Unfall hatte. Klar habt ihr an dem Abend zu viel mit ihm getrunken. Aber das ist nun mal nicht zu ändern. Shit happens. Viel schlimmer finde ich es, dass ihr einfach weitertrinkt und dass ich das Gefühl habe, dass ihr es nicht fertig bringen würdet, außerhalb der Kneipe und des Alkohols etwas mit ihm zu unternehmen und ihn zum Nüchternbleiben zu animieren, wie es meine unglaublich starke Mutter tut… weil sie genau weiß, dass eigentlich schon ein Bier nach so einem krassen Unfall, Delirium Tremens und einem Hämatom im Kopf, das seit fünf Monaten auf sein Sprachzentrum drückt, zu viel ist. Und weil sie sich dieser Verantwortung so gut es geht annimmt.

Ich frage mich, was ihr eigentlich seht, wenn ihr in die Augen meines Vaters blickt. Seht ihr eigentlich, dass da jemand sitzt, der euch genau zeigt, was Alkohol anrichten kann?

 

Die Mehrzahl der Leute, die ich kenne erscheinen mir so, als wäre Alkohol zwar in ihrem Leben integriert, aber süchtig? Nein, Niemals!
[Journey, 2009]

 


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Vom Prä-Alkoholismus

Vom Prä-Alkoholismus II: Co-Abhängigkeit

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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2 Kommentare        

Gestern bin ich durch Oberhausen City gegangen und war frustriert. Hier laufen so viele kaputte Typen rum in der Stadt. Ein Pärchen, das durch die Straßen torkelt mitten am Tag und sich nur anzickt, einer, der betrunken alle anquatscht und die Kinder auf dem Spielplatz stört, eine junge Frau, die am Straßenrand sitzt und heult, weil ihr Freund gerade unfassbar hinter ihr herbrüllt. Fast überall ist erkennbar Alkohol dabei (z.B. als Flasche in der Hand). Ich verstehe jeden, da da wütend wird.

Die Amerikaner hatten die Prohibition. Hat gar nichts genützt. Die Skandinavier haben die hohen Steuern. Den Besoffensten, den ich je gesehen habe, war ein Norweger im Zug in Norwegen. Er kam von einer Fähre mit Duty-Free-Shop und hatte das voll ausgenutzt.

Menschen suchen sich schon irgendwie den Zugang zu Alkohol und Rausch. Sie sind irgendwie unheimlich geil darauf. Ich fürchte aber, Alkohol ist nicht das eigentliche Problem, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Zu welchem Zweck?

Spaß haben, wenn man sonst keinen Spaß hat, Frust wegkippen, Sinnfragen vermeiden, … keine Ahnung

Du hast sehr gut zusammengefasst, was leider irgendwie Alltag zu sein scheint…

Menschen suchen sich schon irgendwie den Zugang zu Alkohol und Rausch. Sie sind irgendwie unheimlich geil darauf.

Aber woher kommt das? Man sagt ja, dass höchstens die Tendenz/Veranlgung zur Sucht angeboren sei. Aber das trifft ja nicht auf den Wunsch nach Rausch an sich zu. Der kommt ja erst, wenn man älter wird und legitim trinken darf… quasi lernt, dass Alkohol zum Weggehen dazugehört. Ein Kind findet das erst mal nicht so cool.

Ich fürchte aber, Alkohol ist nicht das eigentliche Problem, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Zu welchem Zweck?

Ich glaube zum einen, dass die Art, wie wir mit Alkohol umgehen und damit aufwachsen, ein Problem darstellt. Ein interessantes Gedankenexperiment wäre hier, wie eine Welt ohne Alkohol und andere Drogen aussehen würde. Wäre sie wirklich so trostlos wie viele es annehmen? Und wenn die Probleme tiefer liegen (wovon ich auch ausgehe), würden sich die Menschen dann eher damit auseinandersetzen? Gäbe es sie vielleicht gar nicht, weil sie es automatisch tun würden? Was würden sie denn alternativ machen, wenn sie nicht in eine Realität fliehen könnten, die ihnen leichter erscheint?

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