Kurzgeschichte: Verdrossenheit

Karl stellt seinen Mantelkragen hoch und zieht auch den Mantel enger. Er versucht sich unsichtbar zu machen und so möglichst rasch und unbemerkt durch die Menschenmenge zu gelangen. Eigentlich wollte er ja nur in Ruhe etwas durch die Stadt schlendern, doch stattdessen befindet er sich nun inmitten einer Demonstration, die wohl angekündigt gewesen war. Da er solche Geschehnisse aber schon lange ignoriert und er sogar die Tageszeitung abbestellt hat, ist ihm das wohl entgangen.

Während er sich nun an den Samstagvormittagsdemonstranten und ihren Zuschauern vorbei zwängen muss, bereut er es etwas, sich nicht vorher informiert zu haben. Bei seinem Glück landet er womöglich sogar auf der Titelseite der Zeitung, wenn sie darüber berichten! Das würde ihm gerade noch fehlen, denn politisch hält er sich absolut bedeckt, wie es sich eben gehört. Da das immer Streitthemen sind, spricht man einfach nicht darüber und am besten informiert man sich auch nicht. Wer nichts weiß, wird nicht gefragt. Und wer etwas weiß, hat nichts zu melden. Wozu sich also damit auseinandersetzen und den Tag vermiesen lassen?

Er wirft einen flüchtigen Blick zu den Menschen ganz vorne, um die sich die Massen versammeln. Wie sie da alle wieder stehen mit ihren albernen bunten Pappschildchen und glauben, sie könnten auch nur irgendetwas verändern. Dass Karl auf den ersten Blick nicht wirklich erkennen kann, was darauf zu lesen ist, verbessert seine Laune auch nicht.

„Na toll“, denkt er sich. „Man weiß jetzt nicht mal, wer da steht und ob das nun Linke oder Rechte sind. Es könnten auch Ökodiktatoren, irgendwelche Weltverschwörer, radikale Impfgegner oder vollkommen abgedriftete Hippies sein, die meinen, wir sollten uns alle mehr lieb haben. So ein Schwachsinn. Im Grunde sind sie doch alle gleich. Erreichen werden sie damit jedenfalls wie immer rein gar nichts. Als würde es auch irgendetwas ändern, wenn man sich da hinstellt und irgendwelche Kundgebungen von sich gibt oder Mahnwachen abhält. Als würde das einen Menschen überzeugen, der nicht schon längst von etwas überzeugt ist. Und als würde das die Politiker interessieren… die scheren sich ja eh um nichts.“

Seine Wut darüber, auch an seinem freien Samstag nicht von diesem blöden Weltgeschehen verschont zu bleiben, steigert sich nach und nach, während er weiterhin versucht sich durch die Massen ans andere Straßenende durchzukämpfen. Alle gehen ihm gerade sowas von auf die Nerven. Am liebsten würde er…

„Entschuldigen Sie…!“ Eine Stimme hinter Karl unterbricht ihn in seinen Gedanken darüber, wie toll die Welt ohne Menschen wäre. Er dreht sich um und bereut es im gleichen Augenblick, denn es ist nämlich eine junge Frau mit einem dieser Pappschilder. Anscheinend quatschen die jetzt auch noch die Leute an, die es eilig haben und einfach nur an dem ganzen vorbei und nichts damit zu tun haben wollen.

Aggressiv fährt er sie also an: „Was wollen Sie denn jetzt von mir?! Ich hab’s eilig!“

Die Frau zuckt kurz erschrocken zusammen, doch ihre sehr weichen Gesichtszüge, die von blonden fast engelhaften Haaren eingerahmt werden, bleiben unerwartet freundlich. „Ähm… Sie haben was verloren.“, meint sie lächelnd. Anschließend reicht sie ihm ein geblümtes Taschentuch, das tatsächlich seins ist und das ihm wohl aus der Tasche geglitten sein muss. Einem Impuls der Höflichkeit folgend bedankt er sich einsilbig und weiß dann auch nichts weiter, als sie anzusehen. Sie wendet sich von ihm ab und richtet sich wieder nach vorne zur Demonstration. Kurz folgt Karls Blick dem Ihren und er sieht sich die Schilder nun etwas genauer an. Auf den meisten steht das Wort Utopie, womit er nichts anfangen kann. Von vorne dringen zwar Worte an sein Ohr, die wohl erklären sollen, worum es eigentlich geht, aber erfassen kann er sie irgendwie so gar nicht.

„Was reden diese Leute da vorne denn bloß für einen zusammenhanglosen Mist!“, denkt er sich nach einer Weile und verlässt den Ort.

Nach einem langen Tag, den Karl vor dem Fernseher mit einem oder zwei Bier verbracht hat, leert er wie jeden Abend seine Manteltaschen. Dabei entfaltet sich sein geblümtes Taschentuch und offenbart einen Zettel auf dem in sehr femininer Schrift eine Nummer steht. Im ersten Augenblick kann er sich nicht erinnern, wie das dahin gelangt sein könnte, doch dann fällt ihm ein, dass diese junge Frau es ja in der Hand hatte. Ob sie ihm das wohl zugesteckt hat? Er dreht und wendet das Papier, aber es steht wirklich nur diese eine Nummer drauf. Sonst nichts.

Nun doch irgendwie interessiert holt er sein Smartphone, öffnet Whatsapp und findet sie tatsächlich. Ihr Facebookprofil ist sogar damit verknüpft und so beginnt er neugierig die Beiträge zu überfliegen, die sie öffentlich mit der Welt teilt.

Vieles von dem, was sie schreibt, klingt einfach nur nach naiver Träumerei. Als wäre sie noch ein Kind, das keine Ahnung vom Leben hat und noch weniger wie machtlos und klein es eigentlich ist. Er liest auch Sprüche wie „Change the system!“, zu deutsch: „ändere das System!“ Ha, als ob das so einfach wäre! Sie zitiert auch sehr oft irgendwelche Philosophen oder Soziologen oder angebliche Denker von denen sie glaubt, dass sie recht haben. Am liebsten würde Karl darunter schreiben, dass sie mal erwachsen werden soll und die Welt sich durch das kleine bisschen Aufstand, das sie da betreibt und verbreitet nicht ändern wird. Die Mehrheit der Menschen ist eben unbelehrbar, die Politik verfolgt nur wirtschaftliche Interessen und was eben den kleinen müden Rest angeht… naja, der erreicht eh nichts, weil keiner davon wichtig genug ist, um überhaupt etwas zu melden zu haben.

Mit einem Mal wird Karl aggressiv und legt energisch sein Smartphone weg. „Ach, was geht mich das eigentlich an…“, denkt er sich und stellt den Fernseher lauter, vor dem er irgendwann einschläft.

Da der nächste Tag ein Sonntag ist, geht er natürlich wie es sich gehört in die Kirche und beschließt danach einen Umweg zu machen und noch etwas spazieren zu gehen. Als er zu der Straße gelangt, in der einen Tag zuvor die Kundgebung stattfand, muss er kurz an die junge Frau denken. Was sie sich wohl dabei gedacht hat, gerade ihm ihre Nummer zuzustecken, wo er doch so darum bemüht war sich unsichtbar zu machen und unbemerkt in der Masse zu verschwinden?

Er holt sein Smartphone aus der Tasche und sieht sich wieder ihr Profil an. Sie hat etwas Neues geschrieben, das sie wohl wie fast alles mit der Öffentlichkeit teilt. „Meine Güte, die muss es ja echt ernst meinen, wenn sie so gar keine Angst davor hat, dass sie das den Job kosten könnte. Falls sie denn überhaupt einen hat…“, denkt sich Karl und liest die neueste Statusmeldung:

„Die größte erlebbare Dystopie ist wohl jene, über all das Bescheid zu wissen, was zur Utopie führen könnte und zugleich machtlos dabei zusehen zu müssen, wie sich absolut nichts ändert.“

Diesen Satz muss Karl mehrmals lesen, weil er ihn erst so gar nicht erfassen kann. Er bleibt immer wieder an dem Wort Utopie hängen. Was ist das überhaupt? Ist es etwas Absolutes oder stellt sich darunter vielleicht jeder etwas Anderes vor? Was wäre denn seine Utopie? Wie würde er selbst denn gerne leben?

Karl stellt fest, dass er sich nie auch nur ansatzweise Gedanken dazu gemacht hat. Wozu auch? Bringt ja eh nichts darüber nachzudenken wie man gerne leben würde, wo das doch niemals umzusetzen ist…

Und mit einem mal begreift er die Aussage der jungen Frau wirklich und fühlt plötzlich etwas von der ehrlichen Verzweiflung, die eigentlich dahinter steckt. Er fragt sich: Warum geht sie dennoch auf die Straße? Warum kämpft sie auf so verlorenem Posten? Warum steckt sie so viel Energie in so eine undankbare Welt und glaubt an die Menschen?

Doch dieser kurze Moment der Verbundenheit endet abrupt. Karl hat am Ende einfach nur noch Mitleid mit ihr und denkt sich: „Sie sollte sich wirklich lieber für etwas Handfestes engagieren und nicht ihr Leben dafür geben, die Welt verbessern zu wollen. Sie sollte lieber ihr Leben leben bis es dann mal vorbei ist.“

Aber sollte sie wirklich lieber so leben wie er?

[09.2020]

Posted by Journey

Kategorie: (Kurz)geschichten, Allgemein

Autor: Journey

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