Vom Aushalten des (leichten) Strukturverlustes

Ich bin ja schon ein absoluter Listenfreak. Am besten sollte eigentlich alles immer irgendwie notiert werden, damit ich ja nichts vergesse. Da das aber nicht immer möglich ist und ich nicht immer alles gleich und sofort erledigt bekomme, ist mein Kopf manchmal so voll, dass es mal wieder Zeit für einen „Braindump“ wird. Diese Technik habe ich von dieser Seite und es tut mir gut, einfach mal alles so niederzuschreiben, was mir so durch den Kopf spukt.

Im Normalfall werfe ich diesen geistigen Erguss dann weg, sobald ich alles Wichtige in eine To-Do-Liste umgewandelt habe. Da ich aber so blättersparend bin, denke ich mir, dass man die Rückseite des Papiers ja noch gebrauchen kann. Für irgendwas.
Ein paar dieser Blätter habe ich also behalten und sie sind mir heute morgen wieder in die Hände geraten beim allgemeinen Sortieren. Und irgendwie hatte ich ein Déjà-vu, als ich mir das alles so durchgelesen habe…:

„Ich sollte herausfinden, was mich bedrückt und die Scheiße ändern“

„Ich finde, dass es langsam beginnt, schwierig zu werden“

„Es ärgert mich, dass mich unerledigtes im Kopf so belastet“

„Ich frage mich, ob es möglich ist wieder mehr Struktur reinzubringen, obwohl ich nicht alleine bin“

„Ich darf auf keinen Fall irgendwas vernachlässigen“

„Es macht mir Sorgen, dass vieles so egal bzw. irrelevant wird, was vorher anders war (und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist“

„Ich hoffe, dass ich wieder mehr entspannen kann“

Eigentlich klingt das nicht gerade positiv, wenn ich das so lese. Mich hat das selbst etwas irritiert, denn ich fühle mich gar nicht so negativ wie das, was da steht. Ich bin überwiegend glücklich damit, wie alles gerade läuft. Vermutlich verdränge ich aber auch all diese anderen Gedanken die meiste Zeit… weil ich sie einfach nicht zu wichtig nehmen will.

In Stressmomenten jedoch bricht das Negative aus mir heraus. Und das mag ich gar nicht. Dann lasse ich auch andere spüren, wie ich mich fühle und entlade das überall, was mir Leid tut, weil ich so ja eigentlich nicht sein will. So maximal kompliziert. Mein Blick in den Spiegel ist dann weder wohlwollend noch sonst etwas… er sagt einfach nur „Fuck“…
Und obwohl ich das nagende Limit spüre, wenn gefühlt alles auf sehr ungünstige Weise zusammen kommt, denke in solchen Momenten noch zusätzlich, dass ich das alles irgendwie alleine stemmen muss. Es darf nicht anders sein. Bloß nicht delegieren! Bloß keine Hilfe annehmen! Bloß niemandem zeigen, dass ich irgendwie nachlasse! Keine Schwäche zeigen! Muss schon irgendwie funktionieren. Und ach ja, richtig: Entspann dich gefälligst auch mal zwischendurch! Schreib! Lies! Schlaf! Koch! Iss! Retuschier schneller! Die Wäsche wartet! Wann hast du eigentlich zuletzt das Bad geputzt?
Ich gerate dann in einen Strudel, aus dem ich nicht mehr so schnell rausfinde… und dabei ist das alles nur in meinem Kopf. Denn eigentlich weiß ich ja, dass all das Teil einer extremen Zwangsstörung ist, die sich irgendwann entwickelt hat und will, dass ich einfach alles selbst und perfekt hinbekomme. Weil das von außen zu bewundern ist. Und weil ich hyperempfindlich bin, was Kritik angeht… vermutlich weil ich mich im Inneren selbst kritisiere…

Natürlich weiß ich schon lange, dass ich nach wie vor zu all dem neige, was ich hier beschreibe. Wie tief ich allerdings in den Zwängen und Strukturen, die dahinter liegen, behaftet bin, verstehe ich erst jetzt. Ebenso wie tief der Drang sitzt, funktionieren zu müssen und wie sehr ich mich an all das klammere aus Angst vor Kontrollverlust. Wie sehr mich das eigentlich in meiner Freiheit einschränkt, die ich doch so liebe und die ihre Grenzen oft da hat, wo ich auf andere Menschen treffe.
Bisher habe ich all das besonders in Beziehungen gespürt. Vor mir selbst zu „scheitern“ geht ja noch. Sieht ja keiner. Aber vor anderen gefühlt das Gesicht verlieren, indem ich es mal nicht schaffe auf der Arbeit zu 120% zu funktionieren, das Essen zu planen, einzukaufen, den Haushalt zu schmeißen, zu schreiben, zu lesen, zu lernen UND soziale Kontakte aufrecht zu erhalten… ? No way!

Dass Observer und ich gerade diesen „Stresstest“ durchführen, um eben zu testen, ob wir zusammen wohnen könnten, bringt meine Selbsterkenntnis somit nochmal auf ein ganz anderes Level. Bisher war da niemand, der mir quasi Rund um die Uhr und auf diese ganz besondere und sanfte Art und Weise spiegeln konnte, wie viele Zwänge ich noch in mir habe und wie krass ich zeitweise lebe… wie wenig Ruhe ich mir eigentlich gönne, besonders indem ich auch weiterhin dem immensen Drang nachkommen will, alles an mich reißen zu wollen.
Ich glaube für andere ist es ganz normal, wenn man sich die Arbeit in einem Haushalt teilt. Besonders wenn der eine Teil davon mehr Zeit hat, als der andere. Eigentlich ist es ja auch logisch: Zwei Menschen – doppelte Arbeit. Das kann bzw. sollte keiner alleine tun, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.
Aber etwas aus der Hand zu geben fühlt sich einfach nicht gut an. Dieses Gefühl auszuhalten fällt mir auch unglaublich schwer. Ich schaffe es zwar nach und nach immer mehr Dinge loszulassen (was ich bisher noch bei keinem Menschen konnte), doch etwas in mir rebelliert weiterhin, fühlt sich wie eine Versagerin und hat Angst, dass ich nachlassen und meine Struktur verlieren könnte.
Und gleichzeitig merke ich diesmal so bewusst, dass es da nur einen Weg raus gibt: Es aushalten. Lernen es abzulegen. Dinge abzugeben und drauf zu vertrauen, dass nichts Schlimmes passiert und es mir keiner übel nimmt. Denn ich weiß, wohin diese oben beschriebenen Gedanken bisher immer geführt haben…
Wer mich schon eine Weile liest, der weiß auch, was mich all die Beziehungen und Nichtbeziehungen  besonders gelehrt haben: Es war einfacher ohne sie. Ich habe mich da teilweise so kaputtzerdacht, bis ich das alles dann beenden musste, weil das der einzige Weg aus dieser Depression war. Weil ich dann wieder mein Leben hatte und meine Struktur, die mir bis dato so viel Sicherheit gegeben hat.

Mein Chef und bester Freund MR meinte im Scherz, dass ich jetzt mal wieder die Beziehungsendphase einleite. Aber ich sehe und fühle das nicht so und ich will das auch nicht mehr. Denn auch wenn dieser „Stresstest“ für mich als Eremit keinesfalls so leicht ist, wenn z.B. auf der Arbeit der Druck steigt und noch andere belastende Dinge in meinem Kopf herumgeistern,… fühle ich mich so sehr verstanden. Ich sehe auch zum ersten Mal deutlich mein(e) Muster und das Fluchtmuster ist eins, dass ich definitiv nicht mehr ausleben möchte. Dafür ist der Gewinn an Erfahrung und Wissen zu groß und die Zeit mit Observer viel zu kostbar.
Und wir wissen, dass diese Entwicklungen, die ja in unser beider Leben stattfinden und auch noch  stattfinden werden, definitiv ein längerer Prozess werden. Aber ich bin mir auch sicher, dass sich das lohnen wird!

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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