Strukturen verlieren / loslassen / neu schaffen

Von außen wirke ich auf andere wohl wie ein unglaublich organisierter und strukturierter Mensch. (Fast) alles hat seinen Platz und für das meiste habe ich Listen, Tabellen, Pläne,… keiner käme somit auf die Idee, dass ich AD(H)S habe und mir diese Selbstorganisation manchmal auch unglaublich schwerfallen kann. Für mich gehört entweder eine gewaltige Portion Motivation/Eigenwille dazu oder Routine/Zwang.

Wie wichtig eigentlich Strukturen und ein geregelter Alltag für mich sind, merke ich besonders dann, wenn zu viel davon wegfällt. Anfangs versuchte ich noch, locker damit umzugehen, aber letztendlich verliere ich den Boden unter den Füßen, weil mir der Halt in meinem Leben fehlt. Wenn zu vieles unklar ist, fühle ich mich nur noch lost, schlafe schlecht/unregelmäßig, schiebe auf, vernachlässige mich, verliere das Gefühl für Prioritäten, vergesse sehr viele Dinge, bin gereizt/gestresst, voll im Burnout (obwohl „nichts los“ ist),…

 

Da ich in den letzten Jahren ja im privaten Bereich etwas entspannter geworden bin und mich von der ein oder anderen zwanghaft gewordenen Struktur gelöst habe, trifft es mich natürlich umso mehr, wenn es in anderen Bereichen plötzlich ebenfalls zu locker wird…

Das ist vermutlich für den ein oder anderen Menschen nicht so leicht nachzuvollziehen. Wenn ich mich so umsehe/umhöre, dann überwiegt eher die Begeisterung für die Auflockerung von Strukturen. Die meisten definieren das als Freiheit und lieben diese Unbeschwertheit, dieses Schwimmen im Flow ohne Zwang. Alles easy. Alles leicht. Regeln und Termine können sich im Extremfall schon mal wie Fesseln anfühlen, denn im Grunde wollen sie sich nicht einengen lassen und möglichst ohne Zwänge leben.
Ich bin da anders. Für mich ist die Vorstellung von dieser Art von Freiheit der absolute Horror und kein Schwimmen in Flow. Ich kann das nur in einem gewissen Rahmen. Beim Gedanken daran ohne diesen Rahmen fühle ich mich eher wie kurz vor dem Ertrinken.

 

In den letzten Jahren war meine Arbeit ein solcher Rahmen. Ich habe mein Leben danach ausgerichtet und dem alles untergeordnet bzw. darum herum aufgebaut. Zwar hat sich dieser auch verändert (durch Corona/Homeoffice, Beziehungen, Zunahme persönlicher Bedürfnisse,…) aber er war immer irgendwie klar. Das war somit eine Struktur bzw. Konstante in meinem Leben.

Nun ist es allerdings so, dass das der wohl unstrukturierteste und unklarste Bereich meines Lebens geworden ist. Mein Arbeitsalltag fühlt sich für mich absolut ungeregelt an.
Der Hintergrund ist, dass ich ja nur noch bis Ende des Jahres dort arbeite und mein Chef sich eben so langsam daran gewöhnen will, dass ich bald gar nicht mehr verfügbar bin. Sein Stress wird gerade also maximal größer, während ich in den meisten Fällen gar nichts zu tun habe und nur noch im Homeoffice bin.
Er sieht das ein wenig als „(Zeit)Geschenk“ für die jahrelange gute Arbeit, das ich ruhig annehmen darf. Aber für mich (die Geschenke ungern annimmt) war das zunächst ganz und gar nicht entspannend.

Erst mal habe ich krampfhaft versucht, in dem zu bleiben, was mir Sicherheit gibt und meine 8 h / Tag irgendwie zu füllen. Dabei habe ich  und die ohnehin schon wenigen Überstunden abgebaut. Als da dann nichts mehr abzubauen und zu tun war, habe ich mich immer schlechter, schuldiger und sinnloser, viel zu teuer und gleichzeitig absolut wertlos gefühlt.
Es hat eine Weile gebraucht, aber nun geht es mir damit besser.

Durch all das wurde mir jedoch deutlich, wie unklar mein Arbeitsalltag eigentlich ist.
Es ist ja nicht so, dass ich gar nicht arbeite. Wenn ich gerade wirklich nichts Konkretes an Bildbearbeitung zu tun habe, bin ich auf Abruf. Diese Unklarheit hat mich anfangs extrem in Stress versetzt, denn ich kann so eine diffuse Zeit nämlich trotzdem für nichts nutzen, da ich mich auf kaum etwas konzentrieren kann. Wenn ich weiß, dass jederzeit eine Nachricht aufploppen oder jemand anrufen könnte und meine Verfügbarkeit erwartet wird, geht einfach gar nichts. Mittlerweile schreibt mir mein Chef zum Glück, dass er sich um diese oder jene Zeit nochmal meldet. Da hält er sich auch dran.
Dennoch ist es für mich eine unglaublich große Herausforderung, mich an etwas anderes zu setzen, das nichts mit dem zu tun hat, wofür ich in dieser Zeit eigentlich bezahlt werde. Aber auch das lerne ich gerade…

 

Wie man herauslesen kann, ist der Umgang mit dieser Veränderung ein echt großer und etwas längerer Prozess bei mir. In den letzten Wochen hat mich dieser ganz schön gefordert; vor allem, weil er auch parallel mit meiner beruflichen Neuorientierung stattfindet und ich ja dieses Jahr auch noch mein zweites Buch veröffentlichen will…

 

Um das ganze jedenfalls besser bewältigen zu können (und nicht ständig am Ertrinken zu sein), habe ich auf etwas zurückgegriffen, das mir schon mal in einer ähnlichen Phase meines Lebens geholfen und mir wieder mehr Struktur gegeben hat: frühmorgens spazieren gehen!
Dazu stehe ich um 4 Uhr in der Früh auf und bevor ich auch nur irgendetwas anderes mache, ziehe ich mich an, gehe aus dem Haus und laufe eine Runde um den Block. Dabei geht mir übrigens keineswegs darum, das Gelaufe in einem Fitnesskontext zu sehen. Das hat nichts mit Sport zu tun. Ich laufe einfach nur einmal im Kreis um einen etwas größeren Block.
Mein Primärziel dabei ist vor allem psychischer Natur. Es geht mir zum einen darum, das Haus zu verlassen und die Hemmungen vor dem Kontakt mit der Außenwelt zu verlieren, die nach längerer Zeit zu Hause bei mir entstehen. Außerdem habe ich durch diese Morgenroutine das Gefühl, dass ich etwas im Griff und somit ein Stück Kontrolle in meinem Leben zurückgewonnen habe. Dieses Gefühl von Kontrolle kann mir eben auch keiner geben, denn ich bin selbst dafür verantwortlich. Ebenso bin ich es selbst, die sich animiert, das so diszipliniert durchzuziehen.

Das mache ich nun schon seit dem 18. Juli, also seit zwei Wochen.

Und, was ist seitdem so passiert?
Ich habe das Gefühl, dass ich mich im Meer des Lebens endlich wieder an einem (Surf)brett festhalten kann und fühle mich fokussierter und motivierter, da auch irgendwann (wieder) draufzusteigen. Mein Tag beginnt auch um einiges ruhiger und entspannter, was mein Wohlbefinden in kürzester Zeit enorm gesteigert hat.

Noch in der vorletzten Woche habe ich wirklich sehr schlecht geschlafen und viel zu wenig. Ich war auch sehr undiszipliniert, bin nachts aufgestanden, habe gezockt und habe somit meinen Rhythmus komplett verloren. Natürlich schlägt das auch auf die Psyche. Da ich nun aber weiß, dass ich um 4 Uhr aufstehen werde und mir geschworen habe, dass ich vorher nichts anderes mache, zwinge ich mich auch schon eher mal, liegenzubleiben und schlafe in der Regel dann auch wieder ein. Zweimal hat das bisher nicht funktioniert. Da war ich dann eben schon um zwei oder drei Uhr laufen.
Wenn ich dann wieder zurück bin, lüfte ich die Wohnung durch, esse was und plane meinen Tag mit echt wenigen To-dos. Ich schreibe mir nur auf den Tagesplan, was realistisch ist bzw. mache mir bewusst, was dringend ist und was quasi optional.
Denn strukturiert ist nach wie vor nichts so wirklich und es ist auch das wenigste klar…, aber ich schaffe es durch all das endlich wieder besser, mich selbst zu strukturieren! : )

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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