„Es ist wie es ist.“ Aaahhhh, wie ich diesen Ausspruch immer schon gehasst habe! Als Perfektionist – und ich bekenne mich zu dieser Neigung – kann ich mich damit so gar nicht abfinden. „Das geht nicht!“ ist in diesem Kontext noch so ein Satz, der mich erst recht anspornt, das Gegenteil beweisen zu wollen – ganz gleich, ob ich das auch wirklich schaffen kann. So habe ich viele Jahre meines Lebens damit verbracht, sowohl dieses „rebellische“ Verhalten als auch den Anspruch an Perfektion zu verwirklichen, auch wenn ich oft der einzige war, der das von mir forderte. Und ja, so eine Lebenshaltung verleiht den Dingen und auch einem selbst regelrecht Flügel, um immer wieder über sich selbst hinauszuwachsen und persönliche Höchstleistungen zu vollbringen. Es macht auch echt Spaß, dieser Herausforderung gerecht werden zu wollen, das will ich gar nicht leugnen.
Aber ist das auch wirklich gesund?
Zuerst einmal muss man unterscheiden: Perfektion und Perfektionismus ist nämlich nicht dasselbe. Das eine meint ein Ideal, das andere steht für das Streben danach. Perfektion jedoch gibt es nicht in der Natur, auch wenn sie stets danach strebt und auch wir Menschen dieses Streben in uns tragen können. An diesem Persönlichkeitsmerkmal sollen unsere Gene bis zu 50% Anteil haben. Unterschieden wird dabei im wesentlichen die funktionale „gesunde“ Form, die auch unter dem Begriff „Gewissenhaftigkeit“ beschrieben wird und die dysfunktionale „schädliche“ Form, den Perfektionismus.
Ein Perfektionist lebt die schädliche Form des Perfektionismus aus und ist jemand, der die Spannung zwischen einem „Ist“ und einem „Soll“-Zustand nicht aushält, da für ihn das Ideal (das Perfekte) das einzig Akzeptable ist und Fehler auch nicht in sein Konzept gehören.
Die Erfahrung hat mir schmerzlich bewußt gemacht, wie hoch der Preis ist, den man als Perfektionist bezahlt. Irgendwann wird man an seine eigenen Grenzen stoßen und merken, dass der Wille allein weder Berge versetzen kann noch Perfektion erschafft. Eher das Gegenteil ist der Fall. Eine Zeit lang hält man vielleicht noch dagegen und steigert das Bemühen bis in den persönlichen „roten Bereich“, am Ende folgt dann die Ernüchterung, vielleicht auch ein Zusammenbruch, wenn sich die Erkenntnis einstellt, dass man sich selbst mit der Illusion nach Perfektion „versklavt“ hat (Stichwort: Workaholic).
Mir wurden hier auch die möglichen negativen Verknüpfungen bewußt, die damit einhergehen können, wie z.B. ein Selbstwertkonzept, das darauf basiert, das Selbstwertgefühl von Erfolg und Leistung abhängig zu machen. Oft stehen bewußte als auch unbewußte Ängste (Komplexe) hinter dem übertriebenen Streben nach Perfektion, was als „perfektionistisch veranlagt“ bekannt ist.
Also ist der Perfektionismus immer schlecht?
Nicht unbedingt, denn ohne das Streben nach etwas Besserem würde auch keine Entwicklung stattfinden. Toxisch ist wie oben beschrieben eben der übertriebene Drang nach Perfektion, der mit der Erwartung einhergeht, diese auch tatsächlich erreichen zu können/müssen. Die Dosis macht wie so oft das Gift, und so ist auch das Streben nach Idealen solange unproblematisch und in vielen Fällen sogar nützlich, wenn es realistisch bleibt und damit keine fragwürdigen Flucht- und Kompensationsstrategien verknüpft sind.
Fatal daran ist, dass man selbst oft nicht merkt, dass man vielleicht in solchen Mustern drinsteckt. So kann man eine ganze Weile darüber hinwegtäuschen, weil man ja trotzdem gaaaanz tolle Ergebnisse abliefert, zumindest nach Angabe derer, deren Zielsetzung weit realistischer ist, als die eigene. Während man von diesen Menschen gelobt wird, erreicht einen das nur an einem Ohr. Das andere hört die dunkle innere Stimme, die vorwurfsvoll flüstert, dass man versagt habe, weil es eben nicht perfekt ist, was man da abgeliefert hat. Da kommt wenig Freude auf, weil es für einen selbst schon sehr schwer war, wenigstens das zu erreichen, was man erreicht hat. Leider haben sich die Auftraggeber schnell daran gewöhnt, dass man „sehr gut“ arbeitet und immer etwas besser als gefordert ist. Das Hamsterrad beginnt sich derweil schneller und schneller zu drehen, bis der Burn-out einen schließlich heraus katapultiert. Das ist quasi das Totalversagen, das auch dem Selbstwertgefühl gleich noch den Todesstoß verpaßt (wenn das Streben nach Perfektion mit Erfolgsdruck verknüpft ist). Es droht schließlich absolute Handlungsunfähigkeit.
Der dänische Philosoph Kierkegaard meinte einmal: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“. Etwas deutlicher wird es in der Bemerkung von Montesquieu: „Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie es sind.“
Nun gibt es natürlich immer Menschen, die aber all das problemlos zu schaffen scheinen, woran man persönlich scheitert. Dieser „Vergleich“ ist ebenfalls absolut fatal, denn damit bestätigen sich ja leider die Komplexe, mit denen man vielleicht zu kämpfen hat. Dabei findet sich eigentlich immer irgendwer, der dieses oder jenes besser/schneller/toller machen kann, als man selbst. Also begeht man oft den Fehler, diese Menschen zum Maßstab der Dinge zu machen, anstatt die eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch einzuschätzen. So scheitert man also nicht nur an der Perfektion, sondern auch an anderen, mit denen wir uns vergleichen. Ich denke, jeder weiß, wie sich das anfühlt, wenn man quasi chancenlos in einen Wettbewerb mit jenen eintritt, die einfach in ihrer Disziplin überlegen sind, ganz gleich, wie sehr man sich auch anstrengt.
Übertriebenes Streben nach Perfektion wird also zu einem selbstschädigenden Verhalten.
Typische Merkmale wären z.B.:
- Ungeeignete Ziele und Bewertungsmaßstäbe
- Ungeeignetes Selbstwertkonzept aufgrund kognitiver Verzerrungen
- Flucht- und Kompensationsverhalten (falscher Stolz, Ersatzbefriedigung durch hohe Ansprüche an sich selbst)
- Angst vor der eigenen „Fehlbarkeit“ (das unbehagliche Gefühl, nicht gut genug zu sein)
- Depression, Zwangs- und Essstörungen (Ursache/Wirkung?), Kontrollzwang, sich nichts „aus der Hand nehmen lassen, nicht delegieren wollen“, um jeden Preis selbstständig agieren wollen
- Streben nach Vollkommenheit und übertriebene Fehlervermeidung
- Gefangen sein im Teufelskreis zwischen Anspruch und Realität. Ein „Burnout-Syndrom“ und auch die schädlichen Konsequenzen von Vermeidungsstrategien können die Folge sein, ebenso therapeutische Maßnahmen.
Eine Folge von Perfektionismus kann auch ein „krankhaft angstvolles Vermeidungsverhalten“ (Aufschieberitis/Prokrastination) sein, wenn z.B. eine der Hauptdimensionen der eigenen Persönlichkeit übermäßig stark ausgeprägt ist (Stichwort „Neurotizismus“). Damit einher gehen Ängste und Schamgefühle durch die Möglichkeit des persönlichen Scheiterns. So werden dann Aufgaben gar nicht erst angenommen, die das Potential haben, Fehler zu machen und am eigenen Anspruch zu scheitern.
Welche Möglichkeiten könnten vielleicht hilfreich sein, wenn man an sich selbst ein übertriebenes Perfektionsstreben bemerkt, dieses zu vermeiden bzw. auf ein gesundes Level zu bringen?
- Man könnte z.B. eine Liste führen, in der man einen Nutzen/Aufwand/eigene Anspruch/fremder Anspruch Vergleich aufstellt. Ergänzen ließe sich das um die Aspekte positive/negative Auswirkungen. Diese Art „Visualisierung“ mag dabei helfen, Probleme des Perfektionismus sichtbar zu machen
- Die Dinge/Aufgaben nicht unnötig verkomplizieren, nicht zu viel nachdenken und analysieren, sich nicht zu sehr in Details verlieren und stattdessen möglichst einfache Bewältigungsstrategien verfolgen, die vor allem „das Ganze“ im Fokus haben. Also die Gefahr des „Zerdenkens“ möglichst eliminieren oder wenigstens klein halten, damit man handlungsfähig bleibt.
- Sich selbst weniger unter Druck setzen, die eigenen Grenzen und Schwächen respektieren und sich vor allem auf die persönlichen Stärken konzentrieren. Auch ein Stück weit ausblenden, dass „andere“ besser, schneller, effizienter usw. sein könnten. Dazu gehört auch, sich der eigenen Fehlbarkeit bewußt zu sein und diese zu akzeptieren, realistische Erwartungen an sich selbst zu stellen, bereit zu sein, sich möglicher Kritik zu stellen und diese auch als etwas Positives zu verstehen. Sich nicht davor zu scheuen, Hilfe zu suchen, wenn man selbst überfordert ist und diese auch anzunehmen, Aufgaben auch mal zu delegieren oder an andere abzugeben, wenn man eine Aufgabe alleine nicht bewältigen kann.
- Die „richtigen Dinge“ aus den „richtigen Gründen“ tun und sich immer wieder hinterfragen, ob das auch wirklich so ist und dabei ehrlich zu sich selber sein, um evtl. selbstschädigendes Verhalten zu erkennen!
- Sich stets bewußt machen bzw. hinterfragen, wessen Anforderungen man erfüllen soll und welche genau das tatsächlich sind, um sicherzustellen, dass man sich diese Anforderungen nicht zu sehr zu eigen macht und mit dem eigenen überzogenen Perfektionsstreben verfolgt.
- Hinterfragen, ob das eigene übertriebene Perfektionsstreben vielleicht dem Zweck dienlich sein könnte, von eigenen Schwächen abzulenken. Auch die Fokussierung auf ganz bestimmte „Höchstleistungen“, deren Erfüllung vor allem einem selbst „ein gutes Gefühl“ geben, obwohl sie vielleicht gar nicht gefordert sind, könnte ein Hinweis darauf sein, die eigenen Bedürfnisse zu überprüfen.
- Vermeidungsstrategien entlarven, also solche Aufgaben und Projekte hinterfragen, an denen man schon ewig dran ist, ohne je fertig zu werden. Entweder fängt man da gar nicht erst mit an oder aber man investiert viel zu viel Zeit und Arbeit, scheitert aber am überzogenen Streben nach Perfektion.
- Den Begriff „Perfektion“, also diese unerreichbare Idealvorstellung von etwas, mal kritisch hinterfragen. „Perfektion“ kann durchaus eine Frage des Standpunkts und der Perspektive sein. „Perfektion“ mag auch im Auge des Betrachters liegen, der Blick durch die Augen anderer könnte durchaus hilfreich sein.
- In der Natur ist z.B. das Prinzip von „Versuch und Irrtum“ zu finden. Auch der Irrtum gehört somit als Teil des Lern- und Entwicklungsprozesses zum Leben dazu. Menschen lernen auch aus ihren Fehlern und sie zu machen ist in diesem Kontext ein wichtiger Bestandteil des Strebens nach Perfektion.
In einer Leistungsgesellschaft ist der stetige Wettkampf und Konkurrenzdruck allgegenwärtig. Ich persönlich würde mir wünschen, es gäbe eine Art „wertfreien Raum“, eine Atmosphäre, in der das Vergleichen und Wertmaßstäbe mit Maximalanforderungen außen vor bleiben würden. In so einer Umgebung könnte es vielleicht möglich sein, realistische Zielsetzungen zu erarbeiten, vor allem für sich selbst. An so einem „Ort“ könnte man ohne Schamgefühle und ohne schlechtes Gewissen einfach mal locker und Fünfe mal gerade sein lassen, die eigenen Grenzen erkennen und auch akzeptieren, die eigenen Bedürfnisse definieren und differenzieren. An einem solchen „Ort“ gäbe es keine „0 Fehler Toleranz“ und „es ist, wie es ist“ wäre vielleicht eine gesunde Basis für einen realistischen Anspruch im Streben nach Perfektion.
Zum Glück habe ich so einen Raum gefunden und deshalb konnte auch dieser Beitrag entstehen, der alles andere als perfekt ist und somit eigentlich gar nicht existieren dürfte. 😉
Wie seht ihr das, kennt ihr vielleicht solche perfektionistischen Tendenzen bei euch selbst oder bei anderen, mit denen ihr zu tun habt? Wie äußert sich das, wie geht es euch damit und wie geht ihr damit um? Falls euch noch weitere Aspekte zum Thema einfallen, schreibt mir gerne eure Kommentare und/oder Kritik dazu! 🙂
Weiterführende Links:
Dies ist – wenn schon nicht perfekt 😉 – eine ziemlich gute Arbeit über den Perfektionismus. Danke für diese Gedanken!
Folgende Gedanken von mir dazu:
– Die Ergebnisse meiner Arbeiten werden im Allgemeinen als sehr gut beurteilt. Niemand aber sieht, welche Mehrarbeit dahintersteckt, welche psychische Leistung und welche inneren Kämpfe. Auch mir selbst war dies lange nicht bewusst.
– Ich habe begonnen, mir an konkreten Beispielen vorzustellen, meine Ergebnisse wären nur Durchschnitt. Als Gedankenexperiment. Das Resultat ist erschreckend. Allein der Gedanke daran, Durchschnitt zu sein, erzeugt eine innere Unruhe in mir, die ich kaum beschreiben kann. Wenn ich weiter in mich gehe, steckt die Angst dahinter, nicht mehr beliebt zu sein, nicht mehr angefragt zu werden, letztlich: keinen Wert mehr für Andere zu haben (Stichwort: Selbstwertgefühl).
– Diese Angst nehme ich nicht wahr, solange ich sehr gute Ergebnisse liefere wie bisher. Aber: Sie ist da! Immer schon. Sie treibt mich an und belastet mich. Nicht auszudenken was wird, wenn ich als alter Mensch tatsächlich nur noch Durchschnitt bin oder darunter :-O
– Diese Angst belastet mich und meine Gesundheit. Das erkenne ich erst seit Neuestem.
– Die Challenge ist nun, bewusst ein Gefühl des Selbst-Wertes zu verinnerlichen. Das Christentum hat das schon lange erkannt („Jesus liebt dich, bedingungslos“). Abseits der Religionen einen Weg zu finden, scheint mir schwerer, obwohl auch die Schöpfer der Menschenrechte (sie stehen „allen Menschen gleichermaßen“ zu) oder die Erfinder des Begriffs „Menschenwürde“ den bedingungslosen „Menschen-Wert“ propagieren.
– Ich muss meine Beziehungen überdenken. Wer von den Menschen liebt mich bedingungslos („will you still need(!) me … when I'm sixtyfour“)? Wer ist nur auf meine „perfekte“ Arbeit aus (ohne die o.g. Mehrarbeit bezahlen zu müssen)?
– Ich selbst werde viele Personen finden, die mich auch bettlägerig lieben würden. Was aber mit Menschen ist, die keinerlei Freunde haben, bleibt eine offene Frage für mich. Daher ist es für uns alle eine wichtige Aufgabe, nach diesen Menschen Ausschau zu halten. In meinen Augen tut das jeder und jede, der oder die sich sozial und menschennah engagiert. Anderen Menschen (bedingungslos) beizustehen, hilft ihnen, ihren Wert zu erkennen. Und es hilft den Helfenden, nicht auf ewig im eigenen Saft zu schmoren und endlich aus ihren Gedankenspiralen herauszukommen. Kein unwesentlicher Vorteil, meine ich 🙂
Noch einmal danke für Deine Arbeit!
Hallo Pit, vielen lieben Dank für deine ganz persönlichen Gedanken und deine ausführliche und ehrliche Selbstanalyse zum Thema!
Meine Frage dazu: würde es etwas für dich ändern/bewirken, wenn diese Mehrarbeit, psychische Leistung und innere Kämpfe bemerkt und entsprechend honoriert/gewürdigt würden? Mich würde das im Kontext zum Selbstwertgefühl interessieren, ob z.B. diese Mehrleistung unbewusst von einem selbst quasi ignoriert wird, damit man sich selbst das gute Gefühl geben kann, als wäre das etwas ganz Normales, also eine Leistung, die eben nicht allein darauf basiert, dass man sich entsprechend (über)anstrengt hat, sondern zu der man halt einfach fähig sei, ohne sich groß anstrengen zu müssen.
Ist das eine reine Angstvorstellung oder hast du auch reale (negative) Erfahrungen gemacht, die diese Angst, „keinen Wert mehr für Andere zu haben“ begründen?
Wie wäre es denn für dich, wenn du „nur noch Durchschnitt“ wärest, es aber gar nicht zu diesen negativen Konsequenzen führen würde, die du befürchtest, weil ausser dir niemand sonst diese „Durchschnittlichkeit“ unterstellen würde? Könntest du es annehmen, auch mit weniger Leistung gleichermaßen anerkannt und gelobt zu werden?
Dafür ist es (hoffentlich) nie zu spät! Die eigene Gesundheit gehört für mich zu den wertvollsten Dingen überhaupt im Leben. Sie verdient somit eigentlich die größte Aufmerksamkeit und Pflege, bekommt in der Realität aber wohl meist nur ganz unten auf der Liste einen Eintrag…
So sehr mir der Gedanke auch gefällt, ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas wie bedingungslose Wertschätzung überhaupt gibt bzw. geben kann, und ob dies nicht der Traum von einer Idealvorstellung ist. Welche Gründe könnte man z.B. finden, die erklären, warum es im realen Leben oftmals nicht so ist? Woran bemisst sich der Wert eines Menschen? Ist nicht schon diese Frage an sich ein Widerspruch (kann ein Mensch tatsächlich (k)einen Wert haben)?
Im Idealfall könnte das für uns alle eine „Win win Situation“ sein, die ich mir absolut wünschen würde. Allerdings wirft das auch eine Frage in mir auf. Woran erkennt man denn, ob sich jemand wirklich bedingungslos engagiert? Ich stelle mir diese Frage deshalb, weil ja bereits deutlich wurde, dass auch das Streben nach Perfektion (im Grunde genommen ja etwas Positives) manchmal fragwürdige Ursachen haben kann (Ängste/Komplexe). So gibt es z.B. den Begriff des „pathologischen Altruismus“, der das „Helfersyndrom zum Eigennutz (Selbstaufwertung)“ beschreibt. Es ist ja zweifellos ein gutes und schönes Gefühl, anderen zu helfen, aber die Motive, die diesem Verhalten zugrunde liegen, sind wichtig. Wie kann man sich sicher sein, dass man tatsächlich bedingungslos und vor allem auch selbstlos agiert und nicht (unbewusst) eigene Selbstwertprobleme auf Kosten anderer „kuriert“?
Bitte diese kritische Frage nicht falsch verstehen, ich will absolut nicht unterstellen, dass alle „Helfenden“ automatisch infrage zu stellen seien. Mir geht es eher um die Frage, wie ich mich selbst hinterfragen kann, ob das, was ich aus überzeugung zu tun glaube, auch tatsächlich so ist. Ängste und Komplexe (mangelndes Selbstwertgefühl) sind beim Thema Perfektionismus ja auch durchaus treibende Kräfte, auch ohne dass man sich dessen bewusst sein mag…
Nochmal vielen Dank an dich für dein Feedback! 🙂
Observer
Oh, sie wird nicht von mir ignoriert. Ich habe sie nur nie als solche wahrgenommen. Es war mir schlicht nicht bewusst, dass meine guten Ergebnisse nicht auf Genialität beruhen, sondern auf profaner Vorarbeit 🙂
Ja. Werde ich für Genialität gelobt und geliebt, dann für etwas, für das ich nichts kann. Wenn für meinen Einsatz, dann wird mir deutlich, dass die anderen erkennen und anerkennen, wie sehr ich mich identifiziere mit dem Projekt und letztlich mit ihnen. Treibende Kraft hinter meinem großen (perfektionistischen) Engagement ist – das ist meine aktuell neue Erkenntnis – der Wunsch nach Nähe und Verbundenheit, letztlich also nach Wertschätzung und sogar Liebe aus einem von sich aus eher kleinem Selbstwertgefühl heraus.
Ist vielleicht etwas perfide, sich die Liebe anderer Menschen durch Engagement „erkaufen“ zu wollen. Das passt daher exakt zu Deiner Frage:
Kann man sich nicht. Und ich stimme Dir zu in Deinem Zweifeln, zum Teil jedenfalls:
Interessant: Ich habe bedingungslose Liebe gemeint, Du schreibst von bedingungsloser Wertschätzung. Du hast das richtigere Wort verwendet 🙂
Wertschätzung ist nicht dasselbe wie Liebe, wie „I need you“ (um das es in meiner Passage ging). Wertschätzen kann ich auch Dinge oder Wesen, „von denen ich nichts habe“. Wertschätzen kann ich auch die Wespe, die ich hasse. Journey kann vielleicht sogar die Sonne wertschätzen, die sie hasst. Selbstverständlich sind Wespe und Sonne beide wichtig für unser Leben, also brauchen wir sie eigentlich doch. Aber wir beide würden nie empfinden: „Ich brauche dich“ im Sinne von sich hingezogen fühlen, die Anwesenheit genießen, den Kontakt suchen, im Sinne von Liebe.
Wertschätzung ist per se bedingungslos. Dabei geht es nämlich nicht unbedingt um einen Wert für mich selbst. Bei dem „I need you“ aber schon. Ich glaube etwas ernüchternd, dass Liebe eher dem „I need you“ gleicht als der Wertschätzung. Liebe kann nur überleben, wenn es ein einigermaßen gesundes Geben und ein Nehmen ist.
Wertschätzung propagieren die Menschenrechte, bedingungslos. Über Liebe schweigen sie sich aus. Darüber reden aber die Religionen („liebet eure Feinde“; ebenfalls bedingungslos). Außerhalb der Religionen ist Liebe aber nur überlebensfähig durch Geben und Nehmen gleichermaßen. Und daher:
Muss man gar nicht.
Ich helfe der Wespe aus dem Zimmer, anstatt sie zu zwerquetschen, weil ich sie wertschätze. Aus Respekt vor dem Leben. Diese Wertschätzung ist für mich in einem Pflichtgefühl verankert. Allerdings empfinde ich dabei auch das gute Gefühl, ein Leben verschont zu haben.
Helfe ich sozial engagiert andern Menschen, dann ebenfalls a) aus dem Pflichtgefühl heraus, der bedingungslosen Wertschätzung, die mir Menschenrechte und auch meine Empathie gebieten, aber ebenso b) aus dem Wunsch, selbst etwas davon zu haben. Was? Na, das „zweifellos gute und schöne Gefühl, anderen zu helfen“. Und ja – und hier schließt sich der Kreis zum Beginn dieses Kommentars – auch um für das eigene Engagement, die eigene Verbundenheit gelobt und geliebt zu werden. Eigennützig, aber völlig legitim. Geben und Nehmen. Liebe eben.
Ob das schon „pathologischer Altruismus“ ist, mag jeder selbst beurteilen. Ganz wichtig ist mir aber aus der anderen Sicht heraus, dass niemand sein Engagement nur deshalb versagt, weil er die Frage nicht beantworten kann, ob er das auch ja bedingungslos/selbstlos tun würde oder „nur“ aus Eigennutz.
Oh, vergessen:
Hm. Zunächst eine Angstvorstellung, sehr unbewusst, sehr haltlos. Doch möchte ich nicht ausschließen, dass sie resultiert aus der Leistungsgesellschaft, die uns doch unbestritten umgibt. Bei gleichem Preis zählt die erbrachte Leistung, die über einen Folgeauftrag entscheidet. Haben wir das nicht alle verinnerlicht? Hat nicht jeder abhängig Beschäftigte eine – durchaus begründete – Angst um die Zuneigung des Chefs?
Aber tatsächlich habe ich inzwischen auch reale negative Erfahrungen, zumindest als Beobachter. Wo? Konkret in Kirchengemeinden (selbstverständlich nicht in jeder; und ich kenne viele) und überall, wo ehrenamtliche Arbeit verrichtet wird. Wer beginnt "Nein" zu sagen, der ist ganz real in der Gefahr, sich damit auszugrenzen. Wer eine Arbeit nicht gut macht, wird nicht mehr eingesetzt und ggf. vergessen. Einige Menschen haben sich mir gegenüber beschwert, dass sie aus einer Gemeinschaft „herausgefallen“ sind, sobald sie nicht den Erwartungen genügten.
Noch einmal: das ist nicht die erlebte Regel, aber immerhin kam es mehr als einmal vor.
entspannend 🙂
Die Angst wäre weg und die Überbelastung auch.
Hallo Pit,
vielen Dank für deine Ausführungen, die ich absolut als Bereicherung empfinde!
Ganz besonders deine letzte Kommentarantwort hat mich sehr interessiert und auch dazu animiert, mich weiter in die Thematik der „Wertschätzung“ zu vertiefen. Es gibt so viele Begriffe, die oftmals quasi synonym verwendet werden und dennoch differenzierbar sind. Liebe, Anerkennung, Achtung, Wertschätzung, Respekt u.v.m. gehören sicherlich dazu. Vor allem aber scheint mir Respekt von Bedeutung zu sein, als Voraussetzung für Wertschätzung bzw. wertschätzendes Verhalten.
Es heißt z.B. auch, dass man sich Respekt „verdienen“ müsse. Ich meine dagegen, dass die Haltung zu – und das Handeln im Sinne von Respekt etwas ist, das uns selbst und unsere Persönlichkeit charakterisiert.
Mir gefällt deine Differenzierung von Liebe und Wertschätzung, und ich kann auch deine Haltung zu „geben und nehmen“ gut nachvollziehen und für mich selbst auch so annehmen. Diese „Vereinbarung“ von selbstlos und eigennützig hat im Gegensatz zu „wertendem Schwarzweißdenken“ etwas Verbindendes inne. Geben und nehmen, gemeinsam profitieren.
Volle Zustimmung meinerseits!
Dazu fällt mir noch etwas ein:
„Jemand half einer anderen Person, diese bedankte sich und äußerte den Wunsch, sich dafür revanchieren zu wollen. Doch die helfende Person lehnte ab und meinte: wenn du irgendwann eine Person triffst, die Hilfe benötigt, dann hilf dieser Person, das ist mir Dank genug.“
Mir gefällt daran, dass aus der Wertschätzung (in diesem Fall die geleistete Hilfe) kein „Geschäft“ im Sinne von „eine Hand wäscht die andere“ entsteht.
Der Fähigkeit zu respektvollem, wertschätzendem, liebevollem und empathischem Verhalten sagt man übrigens nach, dass sie einem gesunden und ausgeprägten Selbstwertgefühl entspringt.
Ein interessanter Aspekt, wie ich finde… 😉
Ja, mir auch. Respekt ist irgendwie die Grundlage für all die anderen genannten Worte.
Cool, sehr cool. So etwas suche ich seit Langem. Wie oft schaue ich in die Gesichter, die irgendwas tun möchten, nachdem ich helfen konnte. Und ich wäre so froh, wenn sie es einfach stehen lassen könnten. Wenn man bei „nein danke, ich möchte keinen Lohn dafür“ bleibt, bekommt man dann aber doch irgendwie hintenrum materielle Anerkennung. Das macht mich immer etwas traurig. Doch zu sagen: „gibt die Hilfe einfach an andere weiter“ hilft vielleicht.
Danke für den Tipp.
Doch auf der anderen Seite trifft dies genau den Punkt von oben:
Ja, in der Tat. Warum will ich eigentlich unbedingt unentgeltlich helfen? Weil es mir ein schönes Gefühl gibt, zweifellos. Und weil ich finde, dass es so eine bessere Welt wäre. Beides finde ich legitim. Doch vielleicht möchte ich unbewusst auch, dass die Leute in meiner Schuld bleiben. Dass sie mich dadurch mehr mögen (müssen) und lieben. Das wäre perfide. Und somit hast Du eine wichtige Frage gestellt.
Und mir gefällt die Art, in der Du Fragen stellst – irgendwie die richtigen und herausforderndsten 🙂