Die Ellenbogengesellschaft

Es gibt Texte, die warten einfach auf den richtigen Moment. Für diesen Text, den ich 2010 in Anlehnung an eine Internetbekanntschaft und ihr Problem mit falschen Freunden geschrieben habe, ist nun dieser Moment gekommen. Schade, dass ich sie nicht mehr im Internet finde, denn dann würde ich ihr auf jeden Fall diesen Text schicken…

Wir leben meiner Meinung nach in einer Ellenbogengesellschaft. Jeder gegen jeden und jeder für sich. Es wird nicht miteinander geredet, nur aneinander vorbei, weil keiner dazu fähig ist, sich dem anderen zu öffnen aus Angst, verletzt zu werden. Zu recht!
Für mich ist es somit fraglich, ob man anderen Menschen überhaupt vertrauen kann, da die meisten ein Stück weit verdorben sind von dieser Welt, in der nur Geld und Macht zu zählen scheinen. Vielleicht ja. Vielleicht ist aber auch das Vertrauen in eine Person, die man selbst nicht ist und deren Gedankenvorgänge einem schleierhaft sind, zu gefährlich. Vielleicht lässt sie einen fallen und das dann, wenn man es nicht erwartet und wenn man sie am meisten braucht. Vielleicht hintergeht sie einen, betrügt, nutzt aus, erhofft sich nur einen Vorteil. Vielleicht ist das eine Person, an der man wieder einmal merkt, dass soziale Beziehungen das unbeständigste der Welt sind und dass Menschsein fehlerhaft, egoistisch und primitiv sein kann.
Aber man selbst verhält sich nicht anders…

Doch was hilft auch nur annähernd gegen das alles um uns herum?
Was hilft gegen das Auseinanderleben der Menschen?
Was hilft gegen die alltäglichen Missverständnisse?
Was hilft gegen diese Ellenbogengesellschaft, in der das Befinden der anderen einfach egal wird und in der man die Auffassung vertritt, dass jeder sich um seinen eigenen Kram zu kümmern hat?
Wer meint es noch ernst, wenn er fragt, wie es einem geht?
Wir verwenden Worte, deren Bedeutung wir gar nicht kennen und wir schenken angebrachten Worten einfach keine Bedeutung mehr. Dir tut nach Jahren Leid, was du einer Person angetan hast? Warum entschuldigst du dich dann nicht, egal wie es ausgeht? Warum ignorierst du, dass andere sich für dein Befinden interessieren? Und warum fragst du sie selbst nie nach ihrem, wenn es dich doch eigentlich interessiert?
Was ist Prävention für den Betrug und das Gefühl hintergangen worden zu sein?
Was schafft Klarheit? Lässt sich überhaupt alles klären, indem man z.B. auf pädagogisch korrekte Weise die Dinge anspricht und ausdiskutiert? Oder gibt es da ein „zu spät“, ein Punkt, an dem Reden nicht mehr hilft, nichts mehr geglaubt wird, die Vorstellungen von den Menschen um einen herum in Frage gestellt werden? Es ist nie zu spät…
Kann man überhaupt über alles reden? Oder sind die Lücken, die zwischen den Menschen sind, einfach zu groß, die Tabuthemen als Barrikaden zu mächtig?
Leben wir zu sehr neben den anderen her? Neben unseren Kindern, Freunden und Partnern…? Sind die gebauten Brücken zu den andern über dem Abgrund des Nichts zu dünn, zu zerbrechlich? Ist einfach kein Band zwischen zwei Menschen stark genug?
Wer ist den überhaupt da, wenn alles einstürzt, der Kopf weh tut, sich alles zuzieht und die Angst größer wird? Wer ist dann da? Wem kann man sein Herz ausschütten? An wen kann man sich denn noch wenden, wenn nichts Bestand hat, alles im Laufe der Zeit zerbricht, man sich kilometerweit auseinander lebt? Wen kann man von den 300 Leuten im Handy-Adressbuch denn anrufen, wenn es einem schlecht geht? Ich scrolle rauf und runter und merke: Keinen.

Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge: Am Ende steht jeder nur wieder alleine da, weil das Brücken bauen wie immer gescheitert ist. Um einen herum nichts, woran man sich noch festhalten kann. Doch wem soll man das noch erzählen? Ist ja keiner mehr da, der sich das anhört. Falls dieser jemand jemals da gewesen ist, der sich ernsthaft mit den Problemen auseinander gesetzt hat, die dich bedrücken.

Man hat nur noch Leute um sich, die einem im Grunde genommen nicht kennen und mit denen man nichts zu tun hat. Nur noch fremde Schicksale um sich. Im Facebook-Status klagt man dann sein Leid und erhofft sich einen Lichtblick, irgendeine Person, die einem beisteht, wenn alles zusammenbricht. Durch einen Kommentar oder ein „Gefällt mir“.
Es wird nur noch gemessen an Quantität, nicht aber, was die Qualität aussagt. Und wenn wir schon dabei sind, ist die Qualität überhaupt ein Maßstab in diesem Punkt? Man kann doch genau so gut von Leuten in den Abgrund gestürzt werden, mit denen man intensiv befreundet war. Und das ist das häufig nur intensiver und schmerzhafter…
Freunde? Hat man selten die „richtigen“ und wenn, dann haben auch die richtigen ihr eigenes Leben, immer hat jeder sein eigenes Leben, ist auf sich fixiert. Zwei Enden, die zusammengehören könnten und sich doch nie berühren?

Gilt es also im Leben trotz dieser kranken Welt, feste und stabile Brücken über den Abgrund zu bauen, die all dem standhalten? Wer sagt einem, dass sie trotzdem halten, wenn man darüber geht? Wer sagt einem, dass man sie überhaupt bauen muss? Wozu sich die Mühe machen, wenn man am Ende doch wieder alleine da steht und nichts gegen den immer größer werdenden Abgrund um uns herum unternehmen kann? Wenn einem Leute etwas bedeuten, denen man nichts bedeutet? Wenn man an Menschen denkt, sie einen aber ignorieren? Wenn man verliebt ist und doch weiß, dass es keinen wert hat, weil niemand die Vorstellungen von Liebe mit einem teilt? Wenn man Menschen, die einen geprägt haben, nie wieder sieht?
Jeder zieht sich zurück, gesprochen wird nur noch in Rätseln, der Hass schlägt Wellen, es beginnt ein Kampf ums nackte Überleben.

Und mitten in all dem redet man sich immer mehr ein, stark sein zu müssen und verdrängt den Gedanken an die Einsamkeit. Man redet sich ein, dass man auch ohne die anderen klarkommt, die sowieso nie nach einem fragen. Und so wird man immer kühler, redet nicht mehr mit den Leuten, sucht keinen Kontakt mehr, denn im Grunde genommen beschleicht einen immer mehr das Gefühl, dass alle einen abwimmeln und jeder sein Leben für sich leben will und für andere kein Platz mehr da ist.
Und man macht das Radio an, um überhaupt irgendeine Stimme zu hören und wird mit der Zeit immer mehr zu einem Ellenbogen-Menschen, der denkt, dass Überleben nur alleine möglich ist und jede andere Person Ballast an seiner Seite ist. Aber es ist im Grunde nur ein verzweifelter Schrei nach Liebe…

Ich war auch lange Zeit sehr resolut. Ich konnte nie wirklich zugeben, dass ich jemanden brauche. Also bin ich weggelaufen, habe Kontakte beendet und bin am liebsten alleine geblieben, weil das etwas war, was sicher ist.
Mein guter Freund Kai hat es diesbezüglich mal gut erfasst: Du kannst nicht alleine sein. Du kannst dir noch so oft einreden, dass alles scheiße ist und du keine Menschen und keine Beziehung brauchst. Aber du kannst es nicht!
Und da hat er recht. Wenn wir uns alle ohnehin schon brauchen…
…Warum dann nicht einfach sozial sein?

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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