Ein Besuch bei Jo und sieben Stunden

Ich kam aus dem Urlaub mit etwas ganz Besonderem für meinen „Verlobten“. Eine Flasche Carlos. Brandy. Meine Mum meinte, Jo würde zwar alles trinken, aber so etwas Besonders gerne. Ich fragte sie per SMS. Meinen Dad konnte ich ja nicht fragen. Denn erstens hätte er nicht zurückgeschrieben, weil er nie zurückschreibt, und zweitens ist er in Angelegenheiten betreffend Jo und mir sehr kühl.

Ich lief also mit der Flasche in Richtung Jo. Er wohnt auch noch bei mir um die Ecke. Eigentlich sollte ich ihn ja nicht besuchen…aber ich hatte ja einen Grund. Denn wie hätte ich ihm sonst die Flasche schenken sollen?

Dass ich ihn nicht mehr besuchen sollte, sagte er mir an einem Freitag. Ich weiß noch das Datum aus älteren Aufzeichnungen: 18. Juli. Das ist gar nicht mein Tag gewesen. Er meinte, er würde mich die ganze Zeit ignorieren und ob ich das den nicht merken würde. Ich sagte „Nein.“ Das Gespräch verlief insgesamt völlig sinnlos. Früher sah ich noch das Spiel mit dem Heiraten als Spiel an und war nicht wirklich verliebt gewesen. Also verneinte ich damals, als er mich fragte, ob ich ihn lieben würde. Er hat es selbstverständlich nicht direkt gefragt, sondern lieber einen Umweg um drei Ecken gemacht. Am Ende des Gesprächs musste ich ihm jedoch versprechen, dass ich ihn nicht mehr besuchen werde. Seit dem Tag habe ich ihn auch nicht mehr wirklich besucht. Nur einmal um etwas vorbeizubringen. Ich suche immer einen Grund, denn ich kann nicht einfach so bei ihm vor der Balkontür stehen und sagen: „Ach, ich war gerade so in der Gegend…“
Ich frage mir nur, ob er sich überhaupt noch an das Gespräch erinnern kann und ob ich ihn nicht wieder grundlos besuchen kann.

Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, je näher ich dem Haus kam. Ich erreichte die offene Terrassentür, sagte kurz „Hallo…“ und trat in die Wohnung ein. Er war wie immer am Zocken, meinte aber später, er mache „nur kurz Pause.“ Aber zuerst meinte er gar nichts und ich stand wie ein Idiot mit der Flasche in der Hand hinter ihm und fragte mich, ob er überhaupt gemerkt hat, dass ich gerade hereingekommen bin.
Also stellte ich die Flasche auf den Tisch und sagte einen Satz, den ich eigentlich freundlicher hatte sagen wollen. Jetzt war allerdings die Freude etwas gewichen. Er wollte also den spielen, den alles kalt lässt. Gut, denn kalt konnte ich auch sein. „Ich habe dir etwas mitgebracht…“ meinte ich also kühl. Und er sah die Flasche, drehte sich um und sagte: „Ja erst mal guten Tag!“ Ich sagte noch einmal „Hallo“ und setzte mich einfach an den Tisch. Das Gespräch, das nun stattfand, muss man nicht aufzeichnen. Es ist sinnlos sich die Dinge zu merken, die ein Mann sagt, der nebenher Poker im Internet spielt. Wenigstens sah er endlich ein, dass Lloret de Mar an der Costa Brava in Spanien liegt. Im Urlaub habe ich nämlich mit ihm telefoniert und er meinte, das läge in Frankreich. Ich habe sogar mit ihm gewettet, aber da er sowieso kein Geld hat und zu dem Zeitpunkt des Telefonats betrunken gewesen war, bildete ich mir nichts darauf ein.
Der Urlaub war an sich schrecklich gewesen. Nur Jugendliche um mich herum und die fast-erwachsenen Betreuer benahmen sich genauso. Ich bin nicht verklemmt, aber wenn eine halbwegs erwachsene Frau durch Barcelona „Wo ist mein Penis?!“ schreit, hört bei mir der Spaß auf.
Jo hörte irgendwann auf mit Spielen und ging übergangslos an seine wahre Arbeit, aus was die auch immer bestehen mag. Wenn ich höre, was er arbeitet, denke ich immer, dass das eigentlich ein toller Job ist. Ich sehe ihn nur nie arbeiten…
Unser sowieso schon in die Länge gezogenes Gespräch, das aus „Ja“, „Nein“ und noch irgendwelchen vereinzelten Worten bestand, lag nun vollkommen brach, was seinerseits soviel hieß wie: „Du kannst wieder gehen, danke für den Alkohol.“ Das „danke für den Alkohol“ sagte er mir sogar, als ich sagte: „Ich geh dann mal.“ Er meinte dann entschuldigend, er müsse arbeiten. So als ob das das Letzte wäre und er sich dazu zwingen müsste. So sah es auch aus. Ich dachte mir nur ‚Gut, dass du mal arbeitest…‘ und verabschiedete mich mit den Worten „Bis heute Abend!“ Kalt und Kalt ergab in diesem Fall also nicht Warm. Und Minus und Minus nicht Plus.

An dem Abend saßen alle draußen. Doch ich wollte mich anfangs nicht einfach dazudrängen und setzte mich vorerst rein. Als Wal-y hereinkam, fragte er mich erst einmal, wie mein Urlaub war und dann, warum ich denn drinnen sitze. Ich fragte vorsichtig, ob draußen noch ein Platz frei sei. Er sagte: „Keine Ahnung. Aber dann machen wir eben Platz.“ Dabei lächelte er mich an und ich nahm mein Glas und folgte ihm raus. Dort saßen Larry, Teesorte, U., Jürgen und noch so einige. Ich stellte mich hinter einen Stuhl auf dem bereits eine Jacke war. Doch dieser jemand war gerade weggegangen und alle meinten, ich könne mich dort hinsetzten. Es gilt also immer: Weggegangen – Platz gefangen. Das musste ich auch schon mal erleben. Doch wie man sah, machte ich es nicht anders.
Irgendwann kam dann Herb. Ich saß also auf dem Platz von Herb, der allerdings nichts dagegen hatte, dass ich nun dort saß. Ich reichte ihm seine Jacke und er schob sich einfach noch einen weiteren Stuhl hin. Und wie immer zündete er sich eine seiner Zigarren an. Jürgen bat ihn bei Gelegenheit auch um eine. Ich sah ihm zu, wie er sie zur Hälfte anzündete und sich darüber freute, dass sie endlich brannte, obwohl sie nicht wirklich brannte. Herb riss nach einer Weile der Geduldsfaden und er sagte: „Ach komm, das kann man ja nicht mit ansehen!“ Daraufhin zündete er Jürgen die Zigarre richtig an. U. meinte: „Also nee, wirklich nicht…das kann man ja nicht mal als Nichtraucher mit ansehen“ Er sah, wie ich mich vor lachen kaum halten konnte und fügte noch hinzu: „Meine arme Tochter…“

Da an diesem Freitag irgend ein Fest in der Stadt war, verschwanden auch gleich einige nach ihren ersten zwei Bier. Mein Dad verschwand auch und ich setzte mich neben Larry und unterhielt mich über sinnloses Zeug. Zum Beispiel über Jo und dass der für fünf Meter ein Taxi ruft. Ich meinte auch, Jo würde hier am Tisch fehlen, was ihm überhaupt nicht passte. Und irgendwann meinte er, er müsse gehen und ich fragte ihn, wohin er denn gehen müsse. Er antwortete: „Heim.“ Ich blickte auf die Uhr, dachte daran, dass der Abend erst anfängt und fragte verwundert: „Schon?“ Und er meinte daraufhin: „Ja…Willst mit?“ Ich lehnte ab und beteuerte wie sehr es mir doch Leid tat. Wir lachten und er ging.

Mittlerweile waren wieder einige gegangen und gekommen. Unter anderem kamen Holgi, die Freundin vom Herb, Voost und seine Freundin. Ich beschloss nun lieber in die Kneipe zu gehen.
Drinnen waren einige der Hexenzunft-Rocker. Und natürlich tauchte auch Ikki auf und entschuldigte sich zum wiederholten Mal für irgendetwas. Ich sagte wie immer „Schon gut…“, obwohl mir nie ganz klar ist, für was er sich eigentlich immer entschuldigt.
Auf einmal platzierte sich neben mich ein älterer Herr, der überhaupt nicht in das Bild dieser Kneipe passte. Und so machte ich mir meine Gedanken, bis ich ihn einfach fragte, was ein Mann wie er denn in DIESER Kneipe zu suchen hätte. Ich sah ihm an, dass er glücklich war mit jemandem reden zu können und ich war genau so glücklich mich mit jemanden zu unterhalten. Der Mann erzählte mir seine Geschichte. Er sagte mir, dass er Rentner sei und im Oktober 70 werde. Er sei schon vor 18 Jahren in dieser Kneipe gewesen und dann umgezogen. Jetzt wohne er wieder in V. und war am Dienstag zum ersten Mal wieder im Nest und habe sogar Bekannte von früher getroffen. Ich meinte, ich sei eine Art Stammkunde und würde sehr viele Leute kennen, da ich jeden Freitag hier verbringe. Er meinte: „Es waren zwei Brüder…“ Da er nicht auf den Namen kam, hakte ich nach. Und die ersten, die mir in den Sinn kamen, waren Jens und Jo. Und er meinte „Ja, genau!“ und er erzählte mir, er habe Jens früher in Sachen Backtechnik ausgebildet. Ich war ganz begeistert, dass er die beiden kannte.
Irgendwann fragte er mich, was ich denn hier mache. Ich regte mich nicht über diese Frage auf, weil sie nett gestellt war und nicht wie ein Vorwurf klang. Ansonsten mag ich es ganz und gar nicht, wenn Leute mich darauf ansprechen. Ich habe genau das Recht hier mit meinen 18 Jahren zu sitzen wie jeder andere Gast auch. Ich gehöre aus der Sicht des Wirten sogar schon zur „Familie“. Er ist immer ganz stolz und sagt: „Das ist unser Nachwuchs!“
Ich antwortete dem Mann, dass ich hier viele Leute kennen würde und mein Vater hier Stammkunde sei. Ich fügte noch hinzu, dass mir die Leute in diesem Alter zum Teil lieber seien als Gleichaltrige. Außerdem meinte ich noch, dass ich warten würde. Ich sagte natürlich nicht, auf was oder wen. Wir beide fanden meine Warterei hochphilosophisch, da sie von Sehnsucht untermalt wurde, und unterhielten uns zusätzlich über Themen wie zum Beispiel Leben und Tod. Und Glauben. Ich fragte ihn: „Was glauben Sie passiert, wenn wir sterben?“ Ich redete ihn natürlich mit „Sie“ an. Das zeigt einen gewissen Respekt vor dem Alter. Er sagte, er glaube an etwas Großes, eine Art Gott aus dem neue Seelen entstehen und alte wieder reinkommen würden. Ich hatte diese Variante von Glauben noch nie gehört, versuchte es aber nachzuvollziehen.
Zum Schluss verabschiedeten wir uns. Er meinte, wir würden uns dann das nächste Mal mit Namen vorstellen und er lasse mich nun mit meiner Sehnsucht nach etwas oder jemandem alleine. Ich war ihm dankbar für diese Worte und das Gespräch und wünschte ihm innerlich alles Gute.

Ikki versuchte während dem Gespräch, das ich mit dem Mann führte, die ganze Zeit meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Er schenkte mir sogar eine Rose und versuchte sich in das Gespräch einzuklinken. Doch es gelang ihm nicht. Und erst recht nicht, als er den älteren Herrn mit DU anredete. Irgendwann wurde er sogar aus der Kneipe geschmissen, weil er rumpöbelte.

Am Schluss saß ich alleine mit A., dem Polizisten P. und dem Pseudo-Engländer da, die mir sagten, dass Jo nicht kommen konnte, da er sich mit meinem Brandy einen Obstsalat machen würde. Ich war verblüfft. Denn erstens hat Jo kein Obst, zumindest kein Essbares, und zweitens frage ich mich, ob er überhaupt Geschirr hat. Denn er besitzt ja nicht einmal eine Küche…
Den Rest des Abends musste ich mir anhören, dass ich doch gefälligst den Jo besuchen solle und er auf mich warten würde. Ich sagte ironisch „Ganz sicher.“ und beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Denn sie konnten DAS wohl kaum ernst gemeint haben.
Ich war wieder einmal eine der letzten Personen, die die Kneipe verließen. Mit P. Und mittlerweile war es 2 Uhr. Ich hatte also mehr als meinen viertel Tag in der Kneipe verbracht. Über die Uhrzeit schwieg ich allerdings gegenüber meiner Mutter, U. interessiert das ja zum Glück nicht wirklich.

Als mich meine Mum am nächsten Morgen fragte, wann ich denn heimkam, sie habe um halb zehn auf mich gewartet, lachte ich über die frühe Uhrzeit und sagte: „So um 12.“ Und das nicht um mir Ärger zu ersparen. Sondern um mich nicht rechtfertigen zu müssen, warum ich um 2 Uhr noch in der Kneipe saß, als längst nichts mehr los war. Von einem Fünkchen Hoffnung angetrieben…

Posted by Journey

Kategorie: Kneipentagebuch

Autor: Journey

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