„Also in Reli hab ich ne 4+. Aber das ist mir sowas von egal. Mein Vater hatte in seiner Abschlussarbeit in Reli ne 4!“
Observer und ich sitzen im Bus und sind auf dem Weg nach Hause von einer „Vergangenheitstour“ durch K. Ich habe ihm meine alte Wohnung gezeigt, meinen 50m-langen Schulweg, mein Gymnasium (an dem ich gescheitert bin) und all die anderen Orte, an denen Dinge geschehen sind, die mich irgendwie bewegt haben und somit zu meiner Geschichte dazugehören.
Neben uns sitzen zwei Schülerinnen, die sich über ihre Noten unterhalten. Wir hören ihnen still zu und ich denke im Zusammenhang mit dem Tag auch zurück an meine Schulzeit und wie recht sie eigentlich damit haben, das Bildungssystem infrage zu stellen. Das habe ich im Grunde damals auch… immer wieder…
Während ich also so dasitze und mir mal wieder Gedanken über das Bildungssystem mache, beginne ich mich in eine andere Welt zu träumen… und zwar in eine, in der es wirklich egal ist, ob du Psalm So-und-So auswendig kannst. Es sei denn, du willst Theologie studieren oder dich eben in dem Bereich weiterbilden. Aber dann willst du das auch. Dann schreibst du auch gute Noten, denn es begeistert dich und dein Herz hängt daran. Ansonsten frage ich mich: Warum brauche ich Religionsunterricht, wenn ich nicht religiös, ja nicht einmal getauft bin?!
Ich träume von einer Welt, in der es egal ist, ob du deinen Abschluss in 9, 10, 11, 12, 13 oder gar 15 Jahren machst, weil du dein Tempo bestimmst und dir keiner Druck macht. Weder du, noch deine Eltern, noch die Gesellschaft, noch die Arbeitswelt.
Ich träume von einer Welt aus unzähligen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Einer Welt, in der man wirklich frei in seiner Entscheidung ist das zu tun, was man sich wünscht, seine Stärken trainieren darf(!) und nicht gezwungen wird, sich ständig mit seinen Schwächen zu beschäftigen, die einem im späteren Leben NICHTS bringen… außer das ein oder andere Selbstwertproblem, weil man sich wie ein Versager in diesem vergleichenden Notenwettbewerb fühlt, der im Grunde nichts anderes macht als die aussieben, die es eben nicht packen, ob nun psychisch oder kognitiv. Ich bin überzeugt davon, dass Motivation auch anders funktionieren kann.
Ich träume von einer Welt, in der Lehrer ihren Schülern die Gedankenimpulse liefern, die notwendig sind, damit sie sich weiterentwickeln und herausfinden können, was ihnen wirklich (am Herzen) liegt.
Ich träume von einer Welt, in der man nicht nur funktionieren muss, sondern z.B. durch ein Grundeinkommen die Möglichkeit hat, sein Leben lang zu lernen und zu studieren, weil die Entwicklung und die Weitergabe von Wissen im Vordergrund stehen.
Ich träume von einer Welt, in der man mit offenen Armen empfangen wird, egal welchen Abschluss man hat, weil das einfach nicht primär zählt. Weil es normal ist, dass wir mitentscheiden können, was wir lernen wollen und was uns wichtig ist. Und weil wir vor allem durch unser Interesse an etwas Chancen bekommen und nicht von vorne herein ausgesiebt werden, weil uns ein Stück Papier fehlt, das wir einmal im Leben zustande gebracht haben und das wir vermutlich niemals wieder erhalten würden, wenn man uns heute nach dem Stoff der Prüfungen fragen würde.
Ich träume von einer Welt, in der man die Möglichkeit hat, sich einen Job auszusuchen, in den man sich richtig reinhängen kann, selbst wenn er kein Gewinn bringt. Weil man durch ein Grundeinkommen auch ohne ihn überleben könnte.
Ich träume von einer Welt, in der es die Regel ist, die Menschen zu nehmen wie sie sind, damit sie ihre Stärken zeigen können obwohl sie Defizite haben.
Ich träume von Rücksicht und Wertschätzung, von Wille und Wegen, von aufblühenden Talenten. Ich träume von einer Welt, in der du zählst. Als Mensch. Mit all deinen Talenten und Interessen, die du ergänzend einbringen kannst.
Und während ich von dieser Welt träume, frage ich mich, ob jemals die Chance besteht, dass zumindest ein Teil davon real wird… oder ob es einfach nur eine Traumwelt bleibt, in die ich mich flüchte…
Docendo discimus, sapere aude, incipe!
Siehe auch: edition brand eins Bildung