Im letzten Beitrag bin ich das erste Mal seit langem mal auf meine ADS-Diagnose eingegangen, die ich hier nicht so an die große Glocke hänge, wobei sie sehr wichtig und vor allem ernst zu nehmen ist. Immerhin bekomme ich quasi „Drogen“ verschrieben, um meinen Alltag zu bewältigen.
In den vergangenen Jahren habe ich allerdings immer wieder mal hinterfragt, ob es eigentlich gut ist, sich von einem Medikament wie Ritalin/Medikinet so „abhängig“ zu machen und mir dazu auch verdammt viele Gedanken gemacht…
Ich hatte zum Beispiel vor einigen Monaten das Problem, nicht genug Medis vorrätig zu haben. Mein Arzt war dann auch noch gerade in der Zeit nicht da, wo ich eigentlich neue geholt hätte. Also habe ich wirklich knüppelhart meine Medikamente reduziert, um irgendwie möglichst gut durchzukommen. Und das hat erstaunlich gut funktioniert. Seit einiger Zeit merke ich nun, dass ich wirklich weniger brauche (2 statt 3 über den Tag verteilt, am Wochenende sogar oft nur 1) und kann auch mal testen, wie es ganz ohne ist.
Nun möchte ich mal beschreiben, wie es eigentlich ist einzukaufen ohne Medis.
Ich habe eine Liste hinbekommen, war mir aber ständig unsicher, ob das wirklich alles ist und ob man das alles wirklich braucht oder nicht und was ich eigentlich kochen soll. Das hat schon mal erheblich mehr Zeit und Energie gekostet, als es sonst der Fall ist.
Im Netto stand mir dann eine Familie mit Einkaufswagen im Weg. Ich habe versucht ruhig zu bleiben, bin möglichst langsam außenrum gelaufen, nur um festzustellen, dass das nichts gebracht hat, weil auch die sich mit ihrem Einkaufswagen Zeit gelassen haben. Als ich dann endlich mit Observer alleine in dem Gang stand, war ich schon maximal panisch und wusste dann trotz Liste nicht so recht, was ich holen sollte. Zucchini waren nach wie vor sau teuer, also habe ich die gestrichen. Paprika gab es dutzende zur Auswahl, viel zu viele! Und die Tomaten waren irgendwie nichts… wo sollte ich anfangen? Während ich das alles um mich herum wahrgenommen und mich zunächst nur im Kreis gedreht habe, fing ich gar nicht erst an mit dem Einkaufen und stand stattdessen einfach nur paralysiert da. Ohne Observer, der für mich die Paprika ausgesucht hat, würde ich vermutlich immer noch hilflos beim Gemüse stehen…
Was mir dann im Aldi viel krasser als sonst auffiel, war die Geräuschkulisse. Mit einem mal nahm ich alles einfach als störend wahr, besonders wenn etwas an der Kasse über das Band gezogen wurde und ein Mensch meinen Weg kreuzte. Mir fiel es dann auch unglaublich schwer, mich darauf zu konzentrieren, was die Kassiererin mir als Preis nannte, weil ich einfach nur da raus wollte. Sie hätte auch 30€ sagen können statt 7…
Eine weitere absolut hilflose und nur im Nachhinein und mit etwas Selbstironie lustige Situation war dann jene nach der Apotheke. Diese grenzt an den Edeka, sodass man beim Verlassen in einer Art Vorhalle steht, in der auch ein Bäcker ist und durch die alle ein- und ausgehen. Damit nicht zu viele in der Apotheke sind, habe ich Observer vorgeschickt in die Vorhalle. Er fragte mich noch, ob er meinen Rucksack nehmen soll, aber ich verneinte und bereute es in dem Moment, in dem sich mein Poncho mit den Schlaufen im Reißverschluss eben jenes Rucksacks verheddert hatte. Ich schaffte es sehr gut, dass gar nichts mehr ging und ich meine Medikamente nicht verstauen konnte. So lief ich also mit Geldbeutel, Medis und gefangen im Rucksack vor die Tür in der Hoffnung, dass Observer mich befreit. Leider stand er nicht da, wo ich ihn erwartet hatte und ich spürte mit einem Mal eine extreme Panik und Anspannung. Er war aber gar nicht so weit weg, hat mir die Sachen abgenommen, damit ich mich befreien konnte. Aber dieser kurze Moment war ähnlich wie der im Netto beim Gemüse und im Aldi an der Kasse…nur schlimmer.
So viel also zum Thema: Einkaufen mit ADS ohne Medis.
Mit Einkaufen habe ich ja schon seit Ewigkeiten meine Probleme, es aber in der Regel recht gut im Griff. Allerdings am ehesten mit Medikamenten, wenn ich mir meiner Liste sicher bin, meine finanzielle Lage sicher ist, ich morgens um Punkt 0700 den Netto betreten kann und die Chance anderen Menschen zu begegnen eher gering ist. So ganz ohne Medis hat mich das mehr an meine Grenzen gebracht, als ich dachte. Am Abend war ich auch total platt…
Ich glaube vielen ist echt nicht bewusst, wie viel Energie das eigentlich einen Menschen kostet, auf den Reize von außen ungefiltert einströmen. Als Außenstehender und Nicht-Betroffener lacht man zwar etwas darüber oder schmunzelt und meint, dass man ja selbst auch mal Schwierigkeiten hätte, wenn zu viele Menschen da seien, aber das bringt ehrlich gesagt keinen auf eine gemeinsame Ebene (auch wenn das lieb gemeint ist) und lustig ist das in dem Moment für einen Menschen, der wirkliche Panik verspürt, auch nicht. Daher werde ich definitiv nicht vollständig auf die Medikamente verzichten. Aber da ich wirklich das Gefühl habe, dass mein Bedarf oft mehr als gedeckt ist, möchte zumindest mal die Dosis halbieren und das mal austesten.
Mir ist bewusst, dass es Schwierigkeiten aufwerfen könnte (negative zerdenkende Gedanken, mehr Probleme beim Einkaufen, Telefonieren, bei Alltagssituationen mit Menschen,…), aber ich merke einfach, wie sehr mich die Medis oft auch ausknocken und das ist irgendwie ein Zeichen, dass es vielleicht auch zu viel sein könnte…
Ich finde es dennoch toll, wenn Menschen das erwähnen. Dass andere Menschen ähnliche Dinge auch kennen – wenn auch viel seltener und milder – zeigt mir, dass ADS nicht etwas ist, was manche haben und manche nicht. Das gleiche sehe ich beim Autismus, und vermutlich gilt es auch für Diabetiker, Rheumatiker, … Wir haben das alle, aber in so unterschiedlichen Maßen, dass es die meisten Null bemerken, dass aber andere massiv darunter leiden. Die Grenzen sind so fließend, dass eben manche nicht im Ansatz verstehen können, dass Eigenschaft xy jemanden ernsthaft behindern kann.
Auch ich gehe dann und wann erst durch den halben Laden, bevor ich auch nur anfange, irgendetwas in den Wagen zu legen. Das nervt und behindert, ist aber nicht im Ansatz so dramatisch, wie Du es von Dir schilderst, und es löst auch keinerlei Panik aus. Dennoch hilft mir diese eigene Erfahrung, ein wenig Deiner Nöte zu verstehen. Meine entsprechenden Mini-Problemchen zu erwähnen hilft mir, einen Weg zu Deinen massiven Problemen zu bauen.
Nicht korrekt ist natürlich, aus dem eigenen milden Erleben zu schließen: „Die soll sich mal nicht so anstellen, das kennen wir doch alle.“ Leider ist das aber oft der (unausgesprochene) Gedankenschluss 🙁 In dieser Hinsicht liebe ich den altbekannten Satz: „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“