Wie gut wir uns doch kennen…

Ich sehe in den Spiegel und erkenne mich. Mich mit allem, was ich an mir habe. Ich erkenne meine roten, jetzt etwas längeren Haare, die mal wieder nachgefärbt werden sollten. Erkenne meine Ohren, die mich daran hindern, eine krasse Kurzhaarfrisur zu tragen, die mir manchmal lieber wäre. Erkenne mein Muttermal, der mich nie gestört hat und immer noch nicht stört. Erkenne meine Augenbrauen, die so unscheinbar sind, dass ich sie nie zupfen muss. Erkenne mich mit meiner neuen Brille, an die ich mich mittlerweile gewöhnt habe und die ich ebenso mag wie dir alte, von der ich dachte, mich niemals trennen zu können.
Ich erkenne mich ungeschminkt, was ich früher nie war; erkenne mich geschminkt, was ich heute selten bin. Ich komme, was mein Außen angeht, im Großen und Ganzen mit mir klar, wie ich bin. Es ist irgendwie auch unwichtig geworden. Es gibt wichtigeres.
Ich erkenne mich nackt, halbnackt, angezogen, ohne und mit Maske. Ich erkenne mich, selbst wenn ich komplett vermummt bin. Denn wenn ich mir in die grünen Augen sehe, dann bin da ich.
…Oder etwa nicht?
Denn… wer oder was ist „ich“?

Ich bin jedenfalls nicht nur das Außen…

 

Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach meiner Identität kann ich alles Mögliche tun.

Ich kann mich Herausforderungen stellen, neuen und unbekannten Situationen, und mich im Umgang damit besser kennen lernen. Ich kann so mit der Zeit meine Stärken und Schwächen erkunden; herausfinden was ich mag und was ich nicht mag.

Ich kann mich verkleiden und alle möglichen Rollen ausprobieren auf der Suche nach meinem wahren „Ich“. Ich kann mir all das auch nur im Kopf vorstellen.

Ich kann neuen Menschen begegnen, die entweder auch Neues an mir entdecken oder in dem, was ich glaube zu sein, bestätigen.
Ich kann mich ebenso mit altbekannten Menschen umgeben, die mich „kennen“ und dadurch manchmal auch ein allzu festgefahrenes Bild von mir in sich tragen, das ich vielleicht gar nicht mehr bin und das es mir manchmal schwer macht, mich weiterzuentwickeln; herauszufinden, wer ich wirklich bin.

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich.‟
[aus: Max Frisch – Stiller]

Ich kann mich aber auch komplett zurückziehen und mir in einem Vakuum eine Blase schaffen, in der ich glaube wirklich „ich“ zu sein, frei von äußeren Einflüssen. Nur mit mir selbst vor meinem eigenen Spiegel. Weil ich so das Gefühl habe, dass ich nur mit mir alleine wirklich „ich“ sein kann.

Ich kann mir sagen, wie ich bin und genau so sein.
Ich kann mir sagen, wie ich sein will und danach streben, so zu werden.
Aber… kann ich dann auch wirklich so sein?
Mein „Ich“ hat ja auch Grenzen… oder etwa nicht?

Wie real sind denn diese Grenzen? Wie fest stehen diese Mauern? Und wie gut ist es denn gar am Ende, sich wirklich zu kennen?

Ich kann es mir durch mein eigenes Festlegen meiner Selbst auch unendlich schwer machen, an meinen negativen und destruktiven Eigenschaften und Mustern zu arbeiten. Denn ich kann mich ja jederzeit flüchten in mein „Sein“ und dass ich „eben so bin“.

In wie fern kenne ich mich aber wirklich? Und was von all dem ist pure Angst, die mich lähmt so zu sein, wie ich gerne wäre? Ist es daher gut, sich immer so genau zu kennen? Ist es gut, sich seiner Schwächen so bewusst zu sein? Nähre ich sie nicht dadurch, dass ich sie mir immer wieder vorbete?
Was ist denn nun die „Ausrede“ meiner Ängste und was ist mein Charakter? Und ist es nicht so, dass dieser auch wandelbar ist?

Die Antwort auf die Frage, wer ich denn nun bin, kann so zu einem Fluch werden; mein „Sein“ zu einer Entschuldigung, zu einer Rechtfertigung mit der Begründung, mich ja zu „kennen“.

 

Ich habe einmal in einer (mehr oder weniger guten) Kurzgeschichte folgendes geschrieben:

Wer sich kennt, kann sich umbringen. Er weiß ja alles, kennt sich und seine Psyche und legt sich damit fest. Stillstand nennt man dieses Festlegen.

 

Ich denke, dass ich mittlerweile sehr genau sagen kann, dass ich jemand bin, der zu Rückzug und Ruhe tendiert. Ich kann mich auch mal mit Menschen umgeben und fühle mich dann auch wohl. Häuft sich jedoch der Sozialkontakt, laugt mich das aus und mir fehlt die Kraft, um Dinge zu tun, die mir persönlich wichtig sind.

Ich bin jemand, der die Schuld nicht bei anderen sucht und bemüht ist, ihr Verhalten zu verstehen. Manchmal ist das weise Demut, manchmal das Resultat eines zu geringen Selbstwerts, weil ich ebenso dazu neige, die Schuld bei mir zu suchen und mich kleiner zu machen… aber gut ist das nicht, zumindest nicht für mein Wohlbefinden und meine Beziehungen.

Ich habe Angst vor dem Einkaufen, aber auch nicht immer. Es geht sogar ganz gut, wenn der Wille, es zu tun, größer ist. Die Alternative ist zu verhungern oder andere um Hilfe zu bitten und sie damit zu belasten. Und der Zustand der Abhängigkeit ist weitaus unangenehmer.

Ich habe Angst zu telefonieren, aber wenn eine andere Angst größer ist, geht das auch ganz gut. Ich vermeide es gewiss mehr, als ich sollte… aber quäle mich auch nicht mehr unnötig, wenn es auch anders geht. Wenn ich es nicht will, stehe ich dazu und für alle anderen Momente habe ich mittlerweile auch ganz gute Strategien entwickelt, um das hinzubekommen.

 

Ich wandle mich, immerzu; entwickle mich. Ich wachse an mir selbst, an den Herausforderungen. Und an anderen.

Ich bin heute wie gestern und wie morgen. Aber morgen in zehn Jahren könnte ich schon wieder anders sein, so wie ich heute vor zehn Jahren auch anders war; zwar immer noch ich, aber in einer anderen Lebensphase.
Und das ist es vielleicht, was wir uns vor Augen führen müssen: Wir sind wandelbar… nicht von heute auf morgen, aber im Laufe der Zeit… und wir sind deshalb nicht weniger wir. Aber wir sollten uns vielleicht davor hüten, uns und unsere Mitmenschen allzu genau zu „kennen“.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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3 Kommentare        

Denn wenn ich mir in die grünen Augen sehe, dann bin da ich.
…Oder etwa nicht?

Doch, genau so ist es.

Denn… wer oder was ist „ich“?

Wer will das wissen? Ich habe die Frage "Wer bin ich?" nie verstanden. Vielleicht verstehe ich sie ja morgen oder in zehn Jahren 😉

Wir sind wandelbar…

yes, und wie

und wir sind deshalb nicht weniger wir.

so ist es

Aber wir sollten uns vielleicht davor hüten, uns und unsere Mitmenschen allzu genau zu „kennen“.

Allerdings.

Und doch ist alles nicht so klar.

Es ist gut zu wissen,

was ich mag und was ich nicht mag

Aber es behindert dich auch.

Als Kind mochte ich keinen Grünkohl. Als Erwachsener irgendwann aber doch plötzlich. Ein halbes Leben vorher hätte ich ihn vielleicht auch schon gemocht. Meine Überzeugung aber hat mich stets daran gehindert, es noch mal auszuprobieren. Zu wissen, was ich nicht mag, hat mich behindert und ärmer gemacht.

Aber dennoch ist es gut zu wissen, was man mag und was nicht. Nur so können sich Menschen gegenüber (z.B. sexuellen) Übergriffen behaupten. Es reicht nicht zu wissen, dass etwas Unrecht ist. Ich muss wissen, dass ich das (jetzt) nicht will, nur dann kann ich mich auch dagegen behaupten.

Wie so oft kann man hier wohl keine klare Regel aufstellen. Sich ein gutes Stück weit zu kennen ist sicher gut, sich darauf aber völlig einzuschießen, ist schlecht.

 

 

 

 

Wie so oft kann man hier wohl keine klare Regel aufstellen. Sich ein gutes Stück weit zu kennen ist sicher gut, sich darauf aber völlig einzuschießen, ist schlecht.

Das trifft es wohl am besten. Man sollte sich einen Raum lassen, flexibel und offen bleiben ohne ein Fähnchen im Wind zu sein.

… flexibel und offen bleiben ohne ein Fähnchen im Wind zu sein.

Das Leben ist eine einzige Gratwanderung 😉

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