Zur Zeit brennt mir neben so vielen anderen Themen mal wieder das Thema Identität unter den Nägeln und natürlich kommt mir da das gute alte Johari-Window in den Sinn. Für mich hat es eine sehr große Bedeutung, seitdem ich zum ersten Mal davon erfahren habe. Damals (2012) war das noch im Psychologie-/Pädagogikunterricht bei meinem Lieblingslehrer MS, für den ich darüber in meinem „Lerntagebuch“ gebloggt habe. Da das aber leider nicht sehr konstruktiv und erklärend sondern eher reflektierend auf meine Situation damals bezogen war und sehr viel Frust enthält, hole ich das nun nach.
Das Johari-Fenster wurde 1955 von den amerikanischen Sozialpsychologen JOseph Luft und HARry Ingham entwickelt. Es wird verwendet, um die Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung abzugleichen und vor allem das Verständnis innerhalb von Gruppen zu verbessern. Es kann aber eigentlich noch so vieles mehr. Wer es verstanden hat, versteht auch einiges über menschliche Kommunikation und kann sehr viel über sich selbst lernen.
Da ich das in einem reinen Text nicht mal ansatzweise so gut formulieren kann wie in einem Video, habe ich hier was auf YouTube dazu, das ich euch empfehle anzusehen: Das Johari Fenster – professionell erklärt.
Alternativ könnt ihr auch hier nachlesen, was es damit auf sich hat: Johari Fenster
Ausgehend von diesem Video bzw. Artikel erklärt sich unglaublich vieles im menschlichen Miteinander durch das Johari-Fenster…
Wenn ich mich zum Beispiel nicht mitteile, bleibt der für andere geheime Bereich (3) verborgen und sie können mich demzufolge weder wirklich kennen lernen noch richtig einschätzen. Das gilt auch, wenn ich mich zum Beispiel zu sehr an andere anpasse oder eine Rolle spiele, ob nun bewusst oder unbewusst aus Unsicherheit oder weil mir eben mein Innerstes zu privat erscheint. Ebenso gilt es für die Angewohnheit, sich hinter Humor zu verstecken und ihn als Schutzschild für eventuelle Verletzungen zu nutzen.
Die Folge davon ist, dass ich für andere nicht wirklich greifbar bin. Das gemeine ist jedoch: All das kann alles auch passieren, ohne dass ich es merke. Ich selbst fühle mich dann zum Beispiel unverstanden bzw. habe nicht das Gefühl, dass die anderen mich wirklich kennen. Das kann auch sehr verletzend sein.
Die Gefahr, dass ich mich daraufhin zurückziehe und den Abgleich mit der Außenwelt erst recht vermeide (weil er nicht stimmig ist und diese Konfrontation mir Unbehagen bereitet) ist dann umso größer. Im schlimmsten Fall entwickle ich eine Angst davor oder falle sogar in eine Art Identitätskrise.
Da meine Identität jedoch nun mal aus Selbst- und Fremdwahrnehmung besteht und nicht nur aus mir selbst, ist es wichtig, dass ich mich mitteile. Je reflektierter und ehrlicher ich zu mir selbst und zu anderen bin, desto besser können sie mich nämlich einschätzen und desto besseres Feedback kann ich auch von ihnen bekommen und somit den öffentlichen Bereich (1) erweitern, indem sie mir den blinden Fleck (2) mitteilen. Dort befindet sich nämlich das, was andere an mir bemerken und was ich selbst aber nicht sehen kann. Das kann zum Beispiel ein negatives Verhaltensmuster sein, aber auch nervöse Ticks. Sogar Depressionen werden von anderen oft eher erkannt als von einem selbst, weil man eben in seinen eigenen Gedanken steckt und das nichts ist, das auf einmal von heute auf morgen da ist… eine Depression kommt schleichend.
Die Wahrnehmung der anderen kann aber auch etwas etwas total Schönes und Positives enthalten, von dem ich ohne das Feedback dann leider auch nichts weiß. So kann es mich zum Beispiel ermutigen weiter meine Talente zu verfolgen oder an etwas dran zu bleiben.
Wir können uns also gegenseitig unglaublich in unserer Weiterentwicklung helfen, indem wir ehrlich zueinander sind und uns auch die Dinge mitteilen, von denen wir annehmen, dass sie selbstverständlich sind und dass man sie nicht sagen muss. Denn wer kann schon wissen, ob unserem Gegenüber unser Gedankengang ebenso klar ist wie uns selbst?
Und ich weiß, das klingt jetzt leichter als es ist… es erfordert verdammt viel Mut und eine gewisse Selbstsicherheit. Aber ohne richtige Kommunikation und vor allem ohne Nachfragen kann auch nichts besser werden. Dann bleibt alles wie es ist und in der Regel ist das nicht schön, weil sich die Stille zwischen Menschen nur mit den eigenen Gedanken füllen kann.
Selbsterkenntnis, die Fähigkeit, sich selbst „korrekt“ wahrzunehmen und zu erkennen, und Selbsttäuschung, die Fähigkeit, sich (oder anderen) etwas vorzumachen (bewusst als auch unbewusst). Wie kann man eigentlich sicher sein, dass das, was man z.B. aus Erfahrung über sich selbst zu wissen glaubt und das, was einem von aussen gespiegelt wird, auch wirklich authentisch ist?
Ist das vielleicht eine Frage der Quantität, wird also eine angenommene Eigenschaft dadurch zur Realität, wenn sie nur oft genug als solche wahrgenommen bzw. gespiegelt wird? Woran könnte man das verlässlich festmachen, ob eine beliebige Eigenschaft auch tatsächlich gültig ist? Freundeskreis, Kollegen, Familie, wer kann einem eigentlich ein verlässliches Spiegelbild sein?
Und sind diese Eigenschaften, die uns charakterisieren, eigentlich absolut oder relativ zu betrachten? Sind diese Eigenschaften überhaupt fix oder befinden sie sich nicht auch ständig in der Entwicklung, weil wir uns ja auch ständig weiter entwickeln? Kann das Johari Fenster also, einem Foto ähnlich, nur einen relativ kurzen Moment festhalten, der schon vom nächsten Moment infrage gestellt werden könnte?
Was ist mit der Umwelt, also der Lebenssituation, in der man sich befindet? Welche Rolle spielt diese, wenn ich meine Eigenschaften daran messe (bzw. gemessen werde)? Ist es vorstellbar, dass jede andere Umwelt/Lebenssituation möglicherweise ganz andere Eigenschaften in uns sichtbar machen könnte? Unterschiede, die möglicherweise derart kontrovers sein könnten, dass sie im Ergebnis so gar nicht zusammenpassen wollen? Und wie viele Situationen braucht es eigentlich, wie viele Erfahrungen und Begegnungen im Leben sind notwendig, um ein einigermaßen aussagekräftiges Selbstbild im Sinne des Johari Fensters darzustellen?
Wie sieht es eigentlich mit den Werten selbst aus? Kann man sich sicher sein, dass die Definition diverser Wertebegriffe von verschiedenen Personen gleichermaßen interpretiert wird? Wie sieht es mit der „Färbung“ von Wahrnehmungen aus, z.B. die persönliche Stimmungslage, der Beziehungsstatus zu einer anderen Person, eigene Wertmaßstäbe, Vorurteile, negative/positive Erfahrungen, Projektionen eigener Gefühle u.v.m. haben sehr wahrscheinlich einen großen Einfluss auf alles, was wir uns selbst und anderen tagtäglich „spiegeln“. Und nicht zuletzt ist es auch die Art und Weise der Kommunikation, eben jener Austausch von Informationen untereinander, die unser Selbstbild mitgestaltet.
Wie unterscheide ich nun also Annahme von Gewissheit? Woher weiß ich, dass bzw. wann ich „genug“ weiß, um das eigene Selbstbild als aussagekräftig zu verstehen? Wie unterscheide ich z.B. zwischen sympathischer Schmeichelei und böswilliger Verletzung? Woran erkenne ich, ob meine eigene Wahrnehmung und die von anderen frei von solchen „Kontaminationen“ ist? Vor allem auch deshalb, weil das oftmals unbewußt geschieht…?
Das Johari Fenster erlaubt tatsächlich eine sehr interessante Form der Kommunikation mit mir selbst und mit anderen und kann im Idealfall sicherlich dazu beitragen, sich selbst besser zu verstehen und einzuschätzen, vorausgesetzt, dass Ehrlichkeit die Basis ist.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Sich selbst zu erkennen (und nicht zu täuschen) verlangt nach einem sehr gesunden(!) Selbstbewußtsein. Und es braucht sehr viel Mut, sich nicht davor zu scheuen, vor einem Spiegel dem Blick in die eigenen Augen standzuhalten und auch das Johari Fenster stets kritisch zu hinterfragen. Ganz besonders in einer Welt, Gesellschaft und Zeit, in der (Selbst)Täuschung aus fragwürdigen Motiven für nicht wenige Menschen leider zum Alltag geworden zu sein scheint…
Absolut! 🙂
Heeey Observer. : )
Das sind sehr schöne ergänzende und hinterfragende Gedanken zum Thema! Auf einige deiner Fragen möchte ich hier schriftlich noch mal eingehen.
Sehr gute Frage… ich weiß z.B. im Bezug auf die Art der Kontakte auch nicht, ob da die Quantität (viele kurze(?) Begegnungen, die einem viel Feedback geben, das sich im Idealfall überschneidet) aussagekräftiger ist als die Qualität (Feedback von wenigen intensiveren/längeren(?) Beziehungen, die einen ja „kennen“ sollten).
Woran macht man überhaupt fest, wie gut die Qualität des Feedbacks ist?
Ich habe manchmal das Gefühl, dass andere eben nur einen Teil von mir sehen (wollen?). Entweder, weil ich den Rest nicht an die große Glocke hänge oder es eben nicht in die Beziehung zu der Person passt.. Vermutlich ist diese Form von Anpassung/Zurückhaltung aber menschlich…
Und dennoch frage ich mich: wer bin dann ich, wenn ich doch alle Teile bzw. von allem etwas bin? Grundlegend widersprechen tun sich diese Teile von mir ja zum Glück nicht, aber es fühlt sich dennoch seltsam an… besonders in der Retrospektive frage ich mich oft, ob mich meine langjährigen Freunde und meine Familie wirklich kennen… manchmal teile ich mit Menschen, die mir fremd sein sollten irgendwie Dinge, die mir viel wichtiger sind.
Liegt das vielleicht daran, dass wir uns mit der Zeit eben ein Bild von einem anderen Menschen machen? Und wenn ja, wie schafft man es denn, dass man sich wieder neu begegnen und dadurch auch vollständig sehen und überhaupt entwickeln kann? Wie geht man mit Veränderungen um, die der andere nicht sehen kann, weil er eben ein solches Bild von mir im Kopf hat?
Wir verändern uns alle… mal mehr mal weniger… Habe ich mich etwa einfach zu stark verändert, wenn ich feststelle, dass eine Beziehung zu jemandem irgendwie gerade nicht passt oder komisch geworden ist? Bin ich denn je „ich“ gewesen bei diesem Menschen oder habe ich nur nicht gemerkt, wie klein der Teil meiner Persönlichkeit ist, den ich bei ihm/ihr ausleben kann? Und kann man mir denn im Nachhinein einen Vorwurf machen, wenn ich im Moment des Erlebens der Überzeugung gewesen bin, dass ich genug „ich“ bin, um authentisch zu sein? Wie kann ich glaubhaft machen, dass ich einem anderen Menschen nichts vorgemacht habe und mich eben gerade einfach nur anders entwickle als er?
Zu vieles davon ist einem einfach nicht im Moment bewusst… zumindest nicht mir… Doch eigentlich sollte das nicht schlimm sein, weil hier kein Mensch eine Ausnahme bildet… oder?
Die Identität sollte eigentlich keine Momentaufnahme sein… ansonsten wären wir alle extrem labil und so gar nicht gefestigt. Aber ich glaube schon, dass das Johari-Fenster für einen „etwas längeren Moment“ steht. Ich war vor 10 Jahren z.B. ganz anders bzw. hatte ein anderes Leben (Alkohol und Kneipen zwischen Depression und Dramen…). Du vor 10-20 Jahren auch. Aber waren wir deshalb weniger wir selbst in dem Moment? Ist eine „vergangene Identität“ etwa nichts, wenn sie uns prägt und zu etwas Neuem führt?
Was die Frage aufwirft, ob das, was jetzt geschieht, nicht eine Art „Zusatz“ ist, auf dem wir quasi unsere Erkenntnisse über uns selbst immer wieder aufbauen… vielleicht wissen wir so auch erst am Ende unseres Lebens, wer wir sind… bzw. waren? ; )
Das ist auch eine sehr gute Frage… und ich glaube nicht so leicht zu beantworten, da das Selbst ja keine mathematische Formel und viiiiiel zu komplex für irgendwelche aussagekräftigen Berechnungen ist.
Aber ich schätze, all das hängt stark von deiner Reflexionsbereitschaft und der Fähigkeit zur Kommunikation ab sowie von den Personen, die dich spiegeln und was du von dir preisgibst oder glaubst preisgeben zu können. Denn nicht von allen nehmen wir das Feedback an ohne uns angegriffen zu fühlen, egal wie innig die Beziehung zu ihnen ist oder sein sollte. Wenn wir uns nicht verstanden fühlen sind wir aus Selbstschutz zurückhaltender mit den Persönlichkeitsanteilen, die uns unpassend oder unangenehm im Zusammenhang mit bestimmten Personen erscheinen.
Sehr auffallend finde ich, dass sich dieses Verhalten besonders in Eltern-Kind-Beziehungen wiederfindet… aber wer hat denn nun recht? Haben die Eltern recht, weil sie dich von klein auf kennen oder haben sie dadurch auch ein Bild von dir, gegen das du nicht so leicht ankommen kannst? Nicht umsonst ist das „abnabeln“ wohl so immens wichtig für die eigene Entwicklung.
Das haben wir beide ja beim Ausfüllen des Johari-Windows bemerkt… es ist wirklich das erste mal, dass ich Begriffe wie „liebevoll“ und „fürsorglich“ gegoogelt habe. Dazu aber im nächsten Johari-Beitrag mehr. ; )
Vermutlich gar nicht. Vielleicht bedarf es einfach vieler definitiv falscher Annahmen, die dann zur Gewissheit werden…? Jedenfalls bis sich etwas ändert… Lebensumstände, Schicksalsschläge… So werden wir wohl nie ein fixes Selbst haben, aber einen einen einmaligen Charakter entwickeln, der aber auch alles enthalten kann. Nur weil ich z.B. ein lieber und harmoniebedürftiger Mensch bin bedeutet das nicht, dass ich nicht gegen jemanden einen Groll hegen kann. In uns ist – mal wieder – alles und nichts… wie auch mein Über-mich-Text beschreibt.
Sehr schöne Abschlussworte!
Und die Selbsttäuschung sehen wir zwar von außen so… aber ist es Selbsttäuschung, wenn die Person davon überzeugt ist, sie selbst zu sein? Wie tief sollten wir eigentlich bohren mit unseren Fragen und Vermutungen? Ja, Sensibilität ist da nicht immer so leicht. Besonders, wenn du der festen Überzeugung bist, dass sich dein Gegenüber selbst im Weg steht und täuscht und du glaubst etwas zu sehen, was er nicht sehen kann. Ein vorsichtiges Herantasten wäre vermutlich angebracht und Fragen wie: Willst du dich wirklich kennen lernen? Auch das weniger Gute? Willst du überhaupt hören, wie ich dich sehe?
Bei all dem sollten wir aber nie vergessen: Wir sind auch nur ein Teil des blinden Flecks der anderen. Wir können sie also auch niemals vollständig erfassen. Wir sollten eher darauf bedacht sein, sie auf eine vorsichtige Weise zu spiegeln und ihnen dabei helfen, etwas in sich zu entdecken, was sie nicht für möglich gehalten hätten. Soweit jedenfalls zur wünschenswerten Theorie.