Graustufen

Nach meinem letzten Beitrag über Autismus, HSP und AD(H)S ging es mir richtig gut. Es war sehr befreiend, das alles mal zu thematisieren und ich merke immer mehr, wie sehr mir das Thema am Herzen liegt, weil es mich nun mal betrifft.

Es ist auch ein schönes Gefühl mit dem, was man empfindet nicht alleine zu sein. Das habe ich gerade auch bei der Dokumentation „Graustufen“ auf YouTube empfunden. Ich habe in jeder Erzählung der vier Frauen etwas von mir wieder gefunden.
So teile ich die Mobbing-Erfarungen und das unglaublich große Unbehagen, mit anderen Kindern auf dem Pausenhof sein zu müssen. Mir war es die meiste Zeit am liebsten in der Ecke neben der Tür zu stehen und zu warten, bis das ganze vorbei war. Am besten mit dem Rücken zur Wand, um alles im Blick zu behalten.
Ebenso habe ich mich mit Gleichaltrigen eher selten verstanden, sonst hätte ich im zarten Alter von 17/18 wohl nie meine ehemalige Stammkneipe das Nest aufgesucht, in welcher der Altersduchschnitt bei 55 lag.
Ich lade auch total ungerne Menschen zu mir ein, weil es mich sehr stresst, wenn hier andere sind und ich quasi dafür bereit sein und mich darauf einstellen muss. Das war schon immer so und erklärt auch, warum ich zu den meisten Dates lieber 400km gefahren bin als die Leute zu mir einzuladen. Ich kann zwar eine gute Gastgeberin sein, aber es kostet mich viel Energie, was neurotypische Menschen leider nicht so recht nachvollziehen können.

Mit den Gefühlen anderer komme ich auch selten wirklich gut klar, besonders, wenn ich diese Gefühle selbst nicht kenne. Eifersucht (über die ich hier schon mal gebloggt habe) ist zum Beispiel so ein Gefühl mit dem ich einfach nichts anfangen kann.

Was ich jetzt nicht so direkt kenne ist dieses Erlernen von sozialen Interaktionen sowie die Bedeutung von Mimik und Gesik anderer Menschen bzw. kann ich mich daran nicht erinnern, das bewusst einstudiert zu haben bis auf zwei, drei Dinge. Dass es seltam ist, wenn man die Arme beim Laufen nicht bewegt z.B. hat man mir erst spät mit 14 gesagt. Ich glaube auch, dass ich sehr viel in meiner Kneipenzeit gelernt habe wie z.B. anderen beim Sprechen in die Augen sehen und allgemein Kommunikation.

 

Insgesamt finde ich es sehr schön, dass dieses weite Themengebiet offenbar immer mehr Zuspruch findet, auch wenn es natürlich so einige gibt, die das alles für Quatsch, Ausreden und/oder Einbildung halten. Es geht mir aber nicht darum, noch eine Diagnose auf meiner Liste zu haben wie eine Trophäe im Regal, die man würdigen und auf die man Rücksicht nehmen muss – im Gegenteil!
Ich weigere mich auch, eine andere Wahrnehmung überhaupt als Krankheit zu sehen, sondern wünsche mir einfach nur Akzeptanz, weil das etwas Angeborenes bzw. Neurobiologisches ist, das nicht einfach zu „therapieren“ ist. Man kann nur lernen damit umzugehen und das ist aus meiner Sicht eigentlich nur möglich, wenn man ein Umfeld hat, das die Eigenheiten, die damit einhergehen, akzeptiert. Daher ist es mir auch wichtig, dass das jene Menschen tun, die mir Nahe stehen. Momentan haben sie nämlich das Gefühl, dass ich mich zu stark verändere bzw. extrem zurückziehe. Für mich kommen da zwei Dinge zusammmen: Zum einen bin ich einfach nicht mehr alleine und habe somit noch weniger Kapazitäten als sonst für andere und zum anderen ist es so, dass ich immer mehr zu dem stehe, wie ich wirklich bin und wonach mir ist.
In den letzten Monaten habe ich auch verdammt viel über mich gelernt und erfahren, was mir vorher einfach nicht in diesem Ausmaß bewusst war. Mir ist es daher wichtig, dass andere verstehen und nachvollziehen können, dass ich eben nicht erwartungsgemäß funktioniere und man das von mir auch nicht erwarten kann. Ich kann Menschen treffen, ja. Aber wenn ich das mental gerade einfach nicht hinbekomme, bedeutet das weder, dass ich sie nicht mag oder nicht wieder sehen will.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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1 Kommentar        

Hallo Lui!

Die beiden Beiträge „Graustufen“ und „Wozu Diagnosen“ finde ich ausgesprochen gelungen, vor allem auch deshalb, weil du darin nicht nur deine ganz persönliche Sicht der Dinge und deine eigene (Er)lebenssituation schilderst, sondern weil du sie auch durch ganz wunderbare Zitate und Videobeiträge ergänzt hast, so dass sich wirklich jeder einen schnellen und wie ich finde auch gut nachvollziehbaren Einblick in die Welt derer verschaffen kann, deren Wahrnehmung mehr oder weniger vom „Neurotypischen“ abweicht.

Man kann es gar nicht oft genug betonen, dass es dabei nicht um Konkurrenz sondern ganz im Gegenteil um das gesellschaftliche Miteinander geht! Sich besser verstanden fühlen von anderen, darum geht es! Es geht auch nicht darum, besonders sein zu wollen und sich dadurch aufzuwerten, vielmehr steht der Wunsch im Vordergrund, Unterschiede welcher Art auch immer, z.B. in der Wahrnehmung, zu kommunizieren und dadurch ein gewisses Verständnis bei denen zu erreichen, die sich das vielleicht nicht so gut vorstellen können, wie das eigentlich ist und was das für Auswirkungen haben kann. Es ist sicherlich ganz normal, dass man i.d.R. von sich selber ausgeht und daran das Verhalten anderer bewertet. Umso schwieriger wird es dadurch für Menschen mit anderer Wahrnehmung und Reizverarbeitung, sich mitzuteilen.

Vielleicht kann man sich das in etwa so vorstellen, als würde ein Eskimo hier bei uns im frostigen Winter im T-Shirt herumlaufen ohne zu frieren oder umgekehrt, als würde ein an große Hitze gewöhnter Beduine sich hier in den warmen Sommermonaten eine dicke Jacke anziehen, um eben nicht zu frieren.

Der Vergleich mag hinken, aber darum geht es nicht, ich will damit nur verdeutlichen, wie groß die Unterschiede in der Wahrnehmung bzw. im Empfinden einfach sein können und entsprechend groß/drastisch mögen dann auch die abweichenden Handlungen ausfallen und ebenso die Verwunderung derer, die das nicht nachvollziehen können. Für die Betroffenen aber ist es nun mal eine Herausforderung, der man sich jeden Tag aufs Neue stellen muss, ob man will oder nicht. Manche denken sich: hey, du hast ein psychisches Problem, dann mach doch eine Therapie, wirf ein paar Pillen ein, lerne „normal“ zu sein. Aber so einfach ist das eben nicht und was noch sehr viel wichtiger ist: die meisten „nicht neurotypischen“ Menschen haben gar kein Problem damit, so zu sein, wie sie nun mal sind. Oft ist das Gegenteil der Fall, sie würden es auch gar nicht anders wollen, und selbst wenn es wirksame Therapien (im Sinne einer Heilung) gäbe, selbst wenn es ein paar Tabletten gäbe, die man einwerfen könnte und alles wäre „gut“: das würde nicht das eigentliche Problem lösen, denn das ist nicht „das Anderssein“!

Es ist vielmehr die gegenseitige Herausforderung in der Kommunikation und im Verständnis. Schon früh in der Schulzeit lernen Menschen, die abweichend vom Neurotypischen aufwachsen, dass sie anders sind, dass sie durch ihr z.T untypisches Verhalten auffallen und dass sie eher zur Minderheit gehören, manchmal abgewertet als „Psycho“ oder „Sensibelchen“ usw. Das Thema Mobbing zieht sich bei den meisten Betroffenen wie ein roter Faden durch diese Zeit, manchmal auch durch das ganze Leben, und das tut verdammt weh, ganz besonders weil diese Menschen mit einer intensiveren Reizempfindung zurechtkommen müssen, die ganz schnell zu einer Reizüberflutung werden kann, wenn der Druck von außen Überhand nimmt.

Das ist nichts, was man sich aussucht, man wird damit geboren, nur braucht es eine lange Zeit, um zu lernen damit umzugehen. Doch wie soll ein junger Mensch Selbstliebe und Selbstvertrauen entwickeln können, wenn es schon von klein auf jede Menge Stress gibt im Umgang mit anderen, mit neurotypischen Menschen? Ist es da ein Wunder, wenn sich mit der Zeit Vermeidungsstrategien entwickeln, wenn man sich maskiert und verstellt (quasi zum Schauspieler wird) und anpasst, nur um akzeptiert (nicht verletzt) zu werden?

Selbst Psychotherapien bauen oftmals nur darauf, Klienten an die neurotypische Welt besser anzupassen, um dadurch stressfreier durchs Leben kommen zu können. Da geht es leider nicht darum, wie man das auch erreichen kann und dabei so bleibt, wie man nun mal ist. Natürlich kann eine Minderheit der Gesellschaft  wiederum nicht erwarten, dass eine Mehrheit Rücksicht nimmt und sich vollumfänglich an jede Abweichung anpasst. Aber das braucht es auch gar nicht. Das Zauberwort lautet ganz einfach RESPEKT! Der Weg zu einem funktionierenden Miteinander kann nur über Kommunikation erfolgen, leider ist es genau das, was oft so große Schwierigkeiten bereitet. Umso wichtiger ist es, einander zuzuhören, zu verstehen und nachvollziehen zu können, wie es dem anderen geht. Andere so gut es geht „durch die eigenen Augen schauen zu lassen“ und somit die Unterschiede ein Stück weit erfahrbar und erlebbar zu machen. HSPs, AD(H)S-ler und Autisten sind keine Aliens oder kranke Geschöpfe, vor denen man Angst haben muß. Die Welt von nicht neurotypischen Menschen ist genauso bunt, aufregend und interessant, sie ist nur anders, nicht schlechter oder besser, einfach nur ein wenig anders, das ist alles. Und genau dieses „etwas anders sein“ kann für beide Seiten zu einer echten Win-Win-Situation werden, wenn man bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Gemeinsam.

Lui, deine beiden Artikel reichen jedem die Hand und laden dazu ein, genau dies zu tun. Allzu viel Neues habe ich jetzt in diesem Kommentar auch gar nicht schreiben können, als persönlich „Betroffener“, der auch nicht zu den „neurotypischen Menschen“ gezählt wird, ist es mir jedoch ein Bedürfnis gewesen, all das bereits Geschriebene aus eigener, aus persönlicher Erfahrung zu bestätigen. Und ich würde gerne jeden interessierten Leser hier von ganzem Herzen dazu einladen, sich die Zeit zu nehmen und sich mit den gebotenen Informationen zu beschäftigen und keine Scheu davor zu haben, Neues zu entdecken.
Es lohnt sich absolut! 🙂        

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