Das Märchen vom Unsagbaren

Es war einmal ein 19-jähriges Mädchen in einer modernen Zeit. Sie hatte alles, bis auf die wichtigsten Sachen, stehen und liegen gelassen und den Rest in einen Koffer gepackt. Dann war sie abgehauen. Sie wollte nicht mehr lernen und zu Hause vor sich hin vegetieren. Das heißt, lernen wollte sie schon, doch sie wollte nicht mit dem Gedanken leben von ihren Eltern noch einige Jahre abhängig zu sein. Sie hasste Abhängigkeit. Egal von wem.

Und so beendete sie das Ganze und haute ab…

Sie stand nun mit ihrem Hab und Gut an der Seite von der Autobahn und wusste nicht Recht, was sie wollte. Wollte sie per Anhalter mitgenommen werden oder einfach nur da sitzen und auf ein Wunder hoffen? Das Wunder geschah. Ein Typ, Mitte 40, kam vorbei. Er hatte einen vergilbten Anzug an. Doch er hatte kein Auto und das Mädchen aus Nostalgie hohe Schuhe an und so starrte sie wieder auf die Autobahn. Aber eigentlich starrte sie ins Leere und dachte nach, wohin das alles führen sollte und warum sie immer noch lebte.

Der Mann blieb neben ihr stehen. Er sah gut aus, dachte sie, als sie zu ihm aufblinzelte. Aber als er sie nur ansah und nichts sagte, verlor sie wieder das Interesse an ihm und blickte auf die Autobahn, die still lag. Kein Auto fuhr an ihnen vorbei. Wenn er sie jetzt entführen würde, konnte ihr keiner helfen. War ihr nur recht. Von Hilfe hatte sie genug. Bis auf ein warmes zu Hause und essen wartete nichts auf sie. Das sind Dinge, die nicht viele Menschen haben. Aber es reichte eben nicht aus, so ganz ohne Liebe und Vertrauen.

Sie mochte ihre Eltern. Vielleicht so sehr, dass sie ihnen nicht weiter mit ihren Psychosen auf die Nerven gehen wollte und stattdessen abhaute. Vielleicht veränderte das ja etwas.

Der Mann setzte sich neben sie auf den Boden. Sie blickte immer noch ins Leere. Er tat es ihr gleich. Niemand sagte etwas. Nach fünf Minuten wurde ihr das zu doof und sie sah ihn herausfordernd an, bis er zurücksah. „Hallo.“ Lächelte er sie an. Seine Stimme war leicht kratzig. Er erinnerte sie an jemanden, der sein Leben nicht im Griff hat. Warum eigentlich? Nur, weil er hier am helllichten Tage bei ihr saß? „Hallo.“ Erwiderte sie ohne Lächeln, nur mit einem strengen, prüfenden Blick. Er sah sie traurig an. Und sie sahen sich an und schwiegen und schwiegen und sahen sich an, bis sie es nicht mehr aushielt und erneut auf die Straße blickte. Es war zwar unhöflich, aber irgendwie war es ihr auch egal. Sie hatte andere Sorgen als komische Typen, die sich zu ihr setzten.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte er nach einer Weile. Sie antwortete: „Vermutlich nicht.“

Was war bloß mit ihr los? Normalerweise hatte sie keine Probleme mit irgendwelchen Leuten zu reden. Oder lag das an der Situation? Wie auch immer, sie schwiegen weiter. Bis irgendwann ein Auto vorbeifuhr und anhielt. Es war ein großes, weißes Auto mit dem Aufdruck der Süddeutschen Zeitung. Eine irre aussehende Frau mit blonder Dauerwelle stieg aus und kam mit einem Exemplar ihrer Zeitung auf den Mann und das Mädchen zu.

„Halli-hallo!“ meinte die Frau enthusiastisch. „Was macht ihr da?“

Das Mädchen blickte sie an und dachte an ihren früheren Traum, Redakteurin zu werden. Dazu hatte sie nun keine Lust mehr. Und immer weniger gefiel ihr die Gesellschaft in der sie sich befand. Sie wollte doch alleine sein. Ohne Typen, die ihr auf perverse Weise gefielen und ohne Leute mit Erfolg.

„Nichts, das sieht man doch.“ antwortete der Typ Mitte vierzig. Damit gab sich die Frau allerdings nicht zufrieden. Sie suchte offensichtlich nach einer Exklusivstory.

Sie kam nun mit Stift und Block auf das Mädchen zu. Es war regelrecht beängstigend. Als Folge davon prasselten eine Menge Fragen auf sie ein: Wer ist der Mann, kennst du ihn? Was machst du hier so ganz alleine? Wo sind deine Eltern?…

Das Mädchen antwortete kurz und angebunden in nicht vollständigen Sätzen: Keine Ahnung, nein. Nichts. Keine Ahnung, ist mir egal.

Und als die Reporterin sich gerade Notizen machte, stand sie auf und ging ihren Koffer hinter sich herziehend weg. Der Mann stand ebenfalls auf und ging eine Weile neben ihr her. Die Reporterin schrie irgendetwas von wegen, sie brauche noch Informationen…aber das hörten die beiden nicht mehr.

„Möchtest du bei mir wohnen?“ fragte der Mann das Mädchen. Sie antwortete nur: „Ich kenne Sie doch gar nicht!“ Er meinte: „Ich dich doch auch nicht.“ Sie dachte nach. Das war ein gutes Argument. Und da als Alternative nur die Straße in Frage kam, stimmte sie zu. Er nahm ihr daraufhin freundlicherweise den Koffer ab.

Sie redeten nicht viel. Irgendwann verließen sie die Autobahn an einer Ausfahrt und näherten sich einem gewaltigen Komplex, der wohl eine Stadt mit Stadtmauer und allem drum und dran darstellen sollte. So etwas hatte das Mädchen noch nie gesehen. Ungefähr aus der Mitte ragten Burg- oder Kirchtürme in den bewölkten Himmel. Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Die Sonne schien an diesem Tag nicht ein einziges Mal.

Sie kam sich vor wie im 15. Jahrhundert, irgendwo in einer mittelalterlichen Stadt. So sah es nämlich überall aus. Satellitenschüsseln und Elektronik waren raffiniert versteckt. In den Häusern sah es bestimmt sehr modern aus. Hier prallten zwei verschiedene Welten aufeinander!

Er führte das Mädchen zu einem Wohnhaus, in dem er wohl wohnen musste. Innen sah es aus wie ein Haus Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Großstadt. So modern waren sie hier also auch nicht. Sie betrat seine Ein-Zimmer-Wohnung, die wirklich nur aus einem Zimmer Bestand mit einer Küchennische und einem Doppelbett. Und schon kamen ihr die ersten Zweifel. Sie drehte sich zu ihm, um ihm eine Frage zu stellen, doch da hatte er ihr auch schon eins übergebraten und sie lag bewusstlos auf dem Bett.

Als sie wieder aufwachte, war sie mit zwei Handschellen ans Bett gefesselt. Er saß schüchtern am Ende der Bettkante und sah sie an. „Verzeihung.“ meinte er. Sie sah ihn perplex an und wusste zuerst gar nicht, was sie diesem Irren an den Kopf werfen sollte.

„Ach nein, das ist okay, es passiert mir jeden Tag, dass mir einer eins überbrät und mich ans Bett fesselt…“ meinte sie schließlich sarkastisch. Er sprach Sarkasmus und verstand, wie sie es meinte. Das einzige Anzeichen für Normalität an ihm. „Nein, es tut mir wirklich Leid. Ich hätte dich vorher fragen sollen…“

„In der Tat…ob du mich ans Bett fesseln darfst?!“

„Ja…“

Der Typ war doch irre. Aber aufregen brachte ihr auch nichts. „Okay…dann mach mich wieder los.“

„Das geht nicht…“

„Das ist schlecht… Hast du die Schlüssel verlegt?“

„Nein…“ Er deutete auf einen Haken an der Wand an dem ein Schlüssel hing. Dann sah er sie an. Und zwar so, dass es ihr schauderte. Durchdringend… Sie starrte ihn an und wusste nicht, ob sie Angst haben sollte oder nicht.

Plötzlich beugte er sich über sie und streichelte sie. Das war ihr jetzt zu doof. Auf so was hatte sie keine Lust und schon gar nicht, wenn sie ans Bett gefesselt war. Also versuchte sie die Stimmung zu entemotionalisieren. Darin war sie gut.

„Was machst du beruflich?“

Er setzte sich wieder an den Bettrand. Diesmal näher zu dem Mädchen, damit er sie noch berühren konnte. Und dann blickte er sie wieder an. Ernst und traurig. Er musste schon viel hinter sich gehabt haben, dachte sie. „Was mit Pokern.“

Ihr wurde irgendwie schwindlig. Sie musste zumindest von diesem Bett los. Aber anflehen wollte die den Typen auch wieder nicht. Also bat sie darum: „Kannst du mir bitte von dem Bett losmachen?“ Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie ihn duzte… Er meinte jedoch nur: „Nein…das geht nicht.“ „Aber warum denn nicht?“ Sie versuchte mitfühlend zu klingen. „Er lächelte sie an. Mehr nicht. Das reichte. Sie zog an den Fesseln und versuchte sich loszumachen. Aber es gelang ihr nicht. Obwohl ihre Handgelenke sehr dünn waren, kamen sie nicht durch die Handschellen durch. Irgendwann gab sie auf. Er streichelte sie wieder. Sie ließ es geschehen und dachte nach, wie sie da nun wieder rauskommen sollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als das unmögliche hinauszuzögern. Der Typ war leicht irre, auch wenn er nett aussah. Also fragte sie ihn irgendetwas: Wo spielt man Poker? Wie funktioniert das? Hast du keine Frau?…

Doch obwohl er kurz und bündig antwortete, streichelte er sie weiter. Und kam dabei immer näher an Stellen für die er eine kassiert hätte, wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre. Er sah sie an. Sie war jetzt die, die traurig zurückblickte. „Weißt du, du hättest mich auch fragen können und müsstest mich nicht auf brutalste Weise ans Bett zu fesseln.“

„Hättest du etwa Ja gesagt?“

„Nein, ich hätte dir gesagt, dass zu so einer Art von Fesseln Vertrauen gehört…das ist jetzt jedenfalls weg.“ Er blickte sie fragend an. Sie sah an die Decke. Draußen begann es zu regnen. Stak zu regnen und zu Gewittern. Das war vorhersehbar…

„Weißt du, ich bin dir in die Wohnung gefolgt…ich wäre dir schon nicht weggelaufen.“

„Und jetzt, wo du es dir anders überlegst, kannst du es nicht mehr.“ erwiderte er kühl, aber mit einer Spur von Mitleid, die sie komischerweise heraushörte.

So diskutierten sie noch eine Weile miteinander, bis in der Küche ein Rohr brach und die Wohnung bis zur Bettkante unter Wasser stand. Er saß nun mit angezogenen Beinen auf dem Bett, sie immer noch gefesselt. Nun bekam sie Panik. Er hatte aufgehört sie mit seinen Händen sanft zu berühren. Diesmal flehte sie, weil sie Angst vor dem Ertrinken hatte. „Bitte…mach’ mich los!“ Er sah sie an. Sie hatte ihn wohl gerade in einem wichtigen Gedankenvorgang unterbrochen. Da schaltete er sofort, griff nach dem Schlüssel und machte sie los. Als das geschehen war, nahm er sie in den Arm. Sie ließ es geschehen. Er tat ihr Leid. Aber nach einigen Sekunden drückte sie ihn sanft von sich weg und blickte ihm ernst in die Augen. Sie las Verzweiflung darin. „Lass uns abhauen.“ meinte sie und lächelte ihn an.

Sie verließen die Wohnung irgendwie trocken, was allerdings nichts brachte, da es draußen in Strömen regnete und sie keinen Schirm hatten. Genau genommen hatten sie gar nichts mehr. Sie hatte keinen Koffer, er keine Wohnung mehr. Sie hatten nur noch sich. Und auf perverse Weise war das gut so. Sie gingen in die nächste Kneipe einen trinken. Alle schienen ihn dort zu kennen. Und endlich erfuhr sie seinen Namen: Harry.

An einem Tisch in der Kneipe wurde gepokert. Anscheinend waren das alles seine Kumpel. Er sah sehnsüchtig rüber. Sie auch etwas. Dann sah sie ihn an, lehnte sich zu ihrer eigenen Überraschung an ihn, was ihn im ersten Moment zusammenfahren ließ und fragte: „Bringst du mir das Pokern bei?“

Er legte vorsichtig seinen Arm um sie und küsste sie auf die Stirn. Dann entschuldigte er sich wieder. Das machte er schon die ganze Zeit. Er wollte sie nicht ans Bett fesseln. Es kam nur so über ihn, weil er sich vorstellte, wie sie irgendwann wieder weglaufen würde. Wenn sie von zuhause weggelaufen war, würde er auch von ihm weglaufen, so dachte er.

Aber jetzt, wo sie sich hier freiwillig an ihn lehnte und sich auf ihn auf paradoxe Art verließ, beruhigte er sich. Er fragte: „Hast du Geld?“ Sie meinte: „Ja.“

„Okay, dann lass mich für uns pokern. Du darfst zugucken und ich erkläre die hier und da was.“

„Okay.“ Sie vertraute ihm. Dass er sie dann doch losgemacht hat und die Tatsache, dass er Reue zeigt, bringt sie zu etwas, was sie noch nie wirklich gespürt hat: Vertrauen.

Und sie zockten alle ab und lebten glücklich in der altertümlichen Stadt mit der Burg bis an ihrer beiden Lebensenden.

 

(geträumte Geschichte)

Posted by Journey

Kategorie: (Kurz)geschichten

Autor: Journey

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