Bevor ich einschlafe, träume ich bereits. Ich denke mir (Kurz-)Geschichten mit Fremden aus oder erforsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das ist mit Abstand das einzige, was immer an mir haftet, denn ich mache das, seit ich klein bin. Ansonsten habe ich mich im Laufe der Jahre stetig verändert. Nur die Traumwelt und meine Augenfarbe sind geblieben…
Eines Nachts, als es mal wieder an der Zeit war, den Gedanken freien Lauf zu lassen, fragte ich mich, was alles in meiner Vergangenheit schief gelaufen ist und wie es wäre, wenn ich mich einfach in das Geschehen einmischen könnte. Wie wäre es, wenn mein heutiges „Ich“ mit dem Wissen, das ich mir die Jahre über angeeignet habe, auf einmal vor meinem 8 oder 9-jährigen Ich stehen würde?
Die erste Szene, die mir eingefallen ist, war jene auf dem Schulhof…3./4. Klasse…Grundschule…große Pause…
Es läutet. Ein kleines Kind, das sich immer neben der Tür versteckt hat und auf das Ende wartet, stürmt zuerst auf die Tür zu. Sie traut sich dann aber nicht in ihrem blauen altmodischen Pünktchenkleid die Treppen zwischen den anderen hochzugehen und kommt nur langsam vorwärts. Ich sehe ihre leeren Augen und mich trifft es tief im Herzen, weil ich weiß, was nun kommt. Ein paar Jugendliche, die keine Anstalten machen, reinzugehen, bewerfen sie mit Pfennigstücken. Sie dreht sich um – keiner scheint da zu sein – geht weiter und wieder und wieder wird sie beworfen. Nur sie… Und sie versteht nicht, was das bedeutet…es ist für sie – um das mal echt extrem auszudrücken – „normal“!
Aber ich weiß es heute besser…wie sich der Faden zu einem chaotischen Teppich entwickelt. Und wenn ich könnte, würde ich auf die Jugendlichen zulaufen, ihnen eine Szene machen und ihnen das Geld aus der Hand reißen, damit es scheppernd zu Boden fällt. Und wenn das Mädchen in dem Blümchenkleid, den dünnen zerbrechlichen Zahnstocherärmchen und den kurzen braunen Bubenhaaren sich umdrehen und mich ansehen würde…so würde ich vor ihr auf die Knie fallen, lächlen und sie retten. Ich wäre für sie da wie eine Mutter, Schwester und beste Freundin. Ich würde den Dreck der anderen wieder gut machen…
Und mit diesen Gedanken im Hinterkopf sage ich ihr, dass sie etwas Besonderes ist und sich weder von Mike über den Schulhof scheuchen und Angst einjagen lassen muss, noch von ihren Eltern irgendetwas einreden lassen muss. „Du musst denen nichts beweisen. Nur dir selbst! Und versuche alles, was du siehst, aufzuschreiben. Das sind Erinnerungen, die nur du festhalten kannst. Und du kannst es!“
Ich sehe mich 4 Jahre später rauchen bei den Coolen. Meine damalige beste Freundin hat mich da alleine stehen lassen und ich habe das erste Mal auf Lunge geraucht, musste nicht husten. Aber das hat mich leider auch nicht cooler gemacht…
Zur selben Zeit sehe mich zum ersten Mal geschminkt, wie ich meinen Schulranzen aus dem Müll krame, der von anderen reingesteckt wurde. Ich sehe mich, wie ich zu spät zum Unterricht komme und mich zu dem Platz neben meiner Peinigerin schleife, die mich damit aufzieht, dass ich mich nun auch geschminkt habe. Und wenn ich in das Geschehen eingreifen könnte, so würde ich mir sagen: Du verschaffst dir nun Respekt! Du haust auf den Tisch und sagst, was Sache ist und nie nie – hörst du – NIE wieder lässt du dich von ihr quälen!
Zu spät…sie sollte mir noch weitere wunderbare Jahre bescheren…und sie war nicht die einzige…
Die Szene wechselt. Ich bin immer noch auf derselben Schule und stehe neben dem Eingang vom Pausenhof. Wie damals. In der Ecke. Und dann tritt er in mein Leben. Er, der mir das Leben zusätzlich zur Hölle gemacht hat, mich psychisch gequält hat, in dem er mich ebenfalls aufs Übelste gemobbt hat. Könnte ich damals etwas zu ihm sagen, so würde ich einfach sagen, er solle sich verpissen und gar nicht erst mit ihm reden. Kann ich aber nicht mehr…
Später kam der nächste Peiniger in mein Leben, diesmal zwei Klassen unter mir…das war bereits gegen Ende meiner Realschulzeit…und wer weiß, wer sich noch alles über mich lustig gemacht hat?
Was war dann passiert? Ich denke an die Situation bei einer Psychologin zurück…
Ich sehe mich in schrecklichen Klamotten auf dem Stuhl ihr gegenüber. Immer noch mit den braunen Haaren, diesmal sind sie allerdings länger. Das Licht umhüllt den Schreibtisch der Psychologin. Wir sind alleine und ich weiß noch, wie ich alles erzähle, was mir auf der Seele liegt. Ich weiß, wie ich mich fühle. Auf der Schule. Bei den Eltern. Wie mir mein Leben erscheint… Ja, die Erinnerungen sind da. Ich habe sie nur verdrängt, versucht zu vergessen…
Ich glaube meine schönste Vorstellung als Kind war weglaufen. Ich habe oft nachts mein Zeug gepackt und bin in der Wohnung umhergeschlichen…später dachte ich dann immer mehr an Selbstzerstörung…
Wie habe ich das damals alles bewältigt? Ich habe keine Ahnung…ich habe viel alleine gespielt, mir Welten aus Legos gebaut. Freundinnen kamen und gingen. Ich habe alleine auf meinem Bett aus voller Kehle Digimon-Songs gesungen und mich nach und nach auf das Ende vorbereitet: Endstation Hauptschule.
Am letzten Schultag sitze ich im Café mit der Klasse. Abschied. Ich weiß noch, dass ich damals kein Eis gegessen habe. Ich wollte nur weg von all dem. Und in diesem Moment entstehen meine ersten Gedichte…eine Woche später habe ich in meinem Zimmer alles verbrannt…
Auf der Hauptschule ging es mir anfangs zumindest besser als bisher…weil ich aus eigener Kraft beschlossen habe, etwas in meinem Leben zu ändern…leider war auch das ein Jahr später nicht genug…
Ich sitze im Kreis mit der Klasse. Mein jetziger Peiniger starrt mich an und lacht, wenn ich traurig, den Tränen Nahe zu Boden blicke. Ich kann nicht zuhören und fühle mich wie auf dem Präsentierteller. Ich habe Angst vor SchülerVZ. Vor seinen Pinnwandeinträgen, Nachrichten und all den Spitznamen, die ich besitze. Chewbaka, Affe, Gollum…
Und wieder vergeht ein Jahr, in dem ich am liebsten gestorben wäre…
Die einzige, die in dieser Zeit zu mir gehalten hat, war Elvira. Sie war verrückt, fast nie in der Schule, hatte Borderline, aber hey…sie war toll! Sie ist aufgestanden und hat sich dem größten Arschloch der Welt in den Weg gestellt. Sie wollte mir helfen…aber ich hatte mir vorgenommen, mich nicht mehr zu wehren. Ich hatte an der Realschule versucht, mich zu wehren…mit meiner Mum. Und was war aus mir geworden? Mittlerweile gab ich allen einfach recht: Ich war wertlos. Punkt.
Selbes Jahr: Abschlussfahrt.
Ich sitze auf dem Balkon. Es beginnt zu regnen, und ich sitze hier, alleine, ungeliebt während die anderen ihren Spaß haben. Ich hätte nicht mitgehen sollen. 30 Minuten reinste Qualen, da ich nicht tanzen kann. Mitgeschleift, am Rande des Wahnsinns. Im Regen und alleine. Warum kann ich nicht tanzen? Ich bin so scheiße. Ich will sterben, nicht den nächsten Tag erleben. Es ist so einfach, aber doch so schwer. Ich blicke in die Tiefe, in die endlose Tiefe. Für einen kurzen Moment, bei Wind und Regen, denke ich an den Selbstmord, doch ich habe Angst. Angst vor allem. Angst zu leben und Angst zu sterben. […] Ich will nicht mehr leben, es nicht ertragen müssen. Aber was? Es sind die Menschen, die es mir schwer machen so zu sein wie ich gerne wäre. Ich weiß nicht mehr weiter, will weinen. Will dass jemand kommt und fragt wies mir geht. Jemandem mein Leid erzählen. Aber im Inneren weiß ich, es kommt niemand, der mich versteht. Ich fühle mich schrecklich. Mein Leben ist wie ein Déjà-vu, immer mache ich dasselbe falsch und lerne nichts daraus. Verdammt. Ich hasse mich und mein Leben und die anderen, die mich in diese Rolle drängen, absichtlich oder ungewollt. Ich könnte jederzeit sterben, vom Balkon springen. Ich will, dass mein Leid ein Ende hat. […] Doch das alles hier wird nie enden. Ich realisiere nichts mehr. Nichts was ich fühle. Ich schreibe einfach…
Auf meiner Abschlussfeier war ich alleine. Ich wollte meine Eltern nicht mitnehmen, weil ich mich darin überfordert sah. Die Lehrer liebten mich und sahen mich als intelligente Schülerin an. Ich war die Retterin der Schülerzeitung und hatte einen verdammt guten Schnitt. Denn trotz Mobbing bin ich diesmal weiterhin in die Schule gegangen und habe gelernt. Und all das stundenlange Lernen war für meine Eltern selbstverständlich. Ich hätte wohl noch besser sein können.
Ich sah mich mit zwei Welten konfrontiert. In der einen Welt war ich für einige eine Heldin geworden, für andere jedoch immer noch Gollum. Aber ich kam besser damit zurecht, weil ich mich von immer mehr Menschen bestätigt gefühlt habe. Ich war in der Schule zwar dennoch einsam, aber fern von heuchelnden Mitschülern.
Die andere Welt jedoch war die „Nicht-Familienwelt“, in der ich nach wie vor ein Kind und somit nichts wert war. Ich war unbrauchbar und machte nur Arbeit. Das haben mir meine Eltern jedes Mal aufs neue bestätigt.
Und diese Welten passten einfach nicht zusammen. Ich befürchtete, auszurasten, und ging alleine zu meiner Abschlussfeier. Und ich bereue es nicht!
Weitere Jahre vergehen…auf der Suche nach der einen wahren schrecklichen Liebe…
Ich sehe mich mit meinem ersten Freund, mit dem Spießer und allen anderen Kerlen, die ich verlasse. Nur Jo konnte ich nie verlassen, weil wir niemals ein Paar waren. Wegen ihm wollte ich auch sterben…was eine lange, verworrene und verdammt komplizierte Geschichte ist, die seltsamerweise 1/3 meines Blogs füllt, obwohl wir uns nüchtern gesehen nicht einmal geküsst haben…(und das ist echt nur im Nachhinein lustig…)
Ich weiß noch genau, wie mir U. damals sagte, dass ich ihn und überhaupt alle nerve, denn Jo war einer seiner besten Freunde. Damals schloss ich mich in meinem Zimmer ein, bekam keine Luft mehr und rammte mir mein stumpfes Taschenmesser in den Arm…
Am nächsten morgen wache ich leer auf…
Manchmal denke ich, ich wäre verrückt, doch dann fallen mir 1000 andere Leute ein, die wirklich ein schweres Leben haben und ich denke dann wie die anderen: „Ach, dir geht’s doch gut!“ Vielleicht mag das auch stimmen, aber warum geht es mir trotzdem schlecht, auch wenn es mir eigentlich gut geht? Ich wünschte, ich hätte Antworten auf die Fragen, die ich nie zu stellen wage. (aus meinem zweiten Blog / 26.3.07 21:06)
Während ich mir also meine ganzen Erinnerungen, die ich noch habe, vor meinem inneren Auge vorstelle, finde ich mich zwar oft in „für mich“ schrecklichen Momenten wieder, in denen sich Schule und Familie die Hand geben und mich gemeinsam runter drücken, aber ich sehe mich mit der Zeit auch ehrlich, tiefgründig, mutig und sehe letztendlich „mich“ als Ganzes. Ich sehe das „Ich“, zu dem ich immer mehr geworden bin. Und ich bin heute mehr „Ich“ denn je.
All die Jahre, in denen ich sterben und weglaufen wollte sind Vergangenheit. Sie haben mich zwar zu dem gemacht, was ich heute bin, aber ich bin lieber so wie ich heute bin, als anders. Und mit Sicherheit gibt es auch heute noch Momente, die mich boxen, sodass mir die Luft entweicht und mich wieder so wertlos erscheinen lassen wie damals…aber sie werden immer seltener. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal an Suizid gedacht habe…denn ich freue mich auf die Zukunft mit Mr. Chocolate und meiner Katze Luna. Und ich freue mich auf den Tag der Freiheit und auf alle folgenden Tage auch… <3
Die Vergangenheit hat mich zu dem gemacht
Was ich bin
Die Gegenwart wird entscheiden
Wer ich sein werde
Ich habe es in der Hand!
Und in der Zukunft
Wendet sich das Blatt!
Wenn ich das lese kommen bei mir auch Erinnerungen des schreckens hoch.Wie gut ich das kenne sich so schlecht zu fühlen danach zu denken: es gibt Leute den es schlechter geht.Stimmt aber nicht.Nur weil es Menschen gibt die vielleicht mehr durchgemacht haben heißt es nicht das du dich jetzt nicht schlecht fühlen darfst.Gefühle sollte man nicht unterdrücken das wird ja denn nur schlimmer.
Ich wurde damals auch in der Schule gemobbt und für eine Zeit lang habe ich gedacht ich hätte es sogar verdient.Meiner Meinung nach ist Mobbing Mord. Durch schlechte Aufklärung nehmen viele dieses Thema nicht ernst.
Finde es sehr mitreißend geschrieben.
lg Alice
Leid ist leider Leid und lässt sich nicht mit des anderen Leid vergleichen. Man kann das nicht mal an sich selbst richtig messen, da Leid ja auch verheilt. Es hinterlässt oft Wunden der Erkenntnis, aber es verheilt und irgendwann ist das alles nicht mehr sooo schlimm…
Und ja, Mobbing IST Mord. Und man versucht ja die Kids aufzuklären, soziale Projekte, Vorträge und so, aber das funktioniert bei vielen nicht, weil die das nicht realisieren können und es die gar nicht mehr juckt.
Ich war mal Assistentin bei einem Vortrag über Mobbing an einer Hauptschule. Es war eine siebte Klasse, in der ein Mädchen gemobbt wurde. Die kamen erst eine Ewigkeit später darauf, dass es bei all dem um das Mädchen ging, das nicht mal anwesend war, was die auch nicht gemerkt haben. Und als dann im mitgebrachten Video ein Mädchen heulend zusammenbrach, haben sie sich auch über die noch lustig gemacht. Ich hätte jedem einzelnen eine reinhauen können. -.-
Und wieder einmal danke! Ich freue mich wirklich, dass mal mein Schreibstil so gut ankommt! : )
LG Journey
Ich selbst wurde niemals so behandelt, schon gar nicht mein ganzes Schulleben hindurch. Aber ich hatte einen Schulfreund, bei dem ich zeitweise einmal in der Woche zum Essen Zuhause war. Er war anders als alle anderen. Das war ich auch, aber anders anders. Ich war unauffällig anders, seine Andersartigkeit rückte dagegen eher ins Blickfeld und bot viel mehr Angriffsfläche für die wenigen Klassenclowns, die ihn bald auf dem Kieker hatten. Er schien wie geboren für diese Scheiß-Rolle. Also wurde er geärgert und gereizt ohne Ende (das Wort „Mobbing“ gab es damals noch nicht). Als Ergebnis brüllte er oft durch die Klasse aus purer Verzweiflung – und bekam vom Lehrer den Ärger dafür.
Und ich? Ich war sein Freund. Kein Busenfreund, aber ich mochte ihn. Ich habe ihm nicht ein einziges Mal geholfen, nicht gegenüber den Schülern, nicht gegenüber den Lehrern 🙁
Unglaublich. Wenn ich heute zurückdenke, frage ich mich, ob ich überhaupt begriffen hatte, was da abging. Ich weiß noch genau, wie es mich immer ärgerte und aufregte, wenn er wieder ein neues Problem bekam. Die Idee zum offen Partei-Ergreifen scheint mir nie gekommen zu sein. Nicht mal mit ihm darüber geredet habe ich. Niemals. Nicht ein Wort. Er hatte einen Freund, doch das nützte ihm gar nichts. Er kämpfte immer, immer alleine. Das ist unendlich beschämend 🙁
Dein Text, liebe Journey, macht mir zum ersten Mal klar, was er durchlebt haben muss. Danke dafür!
Wow, deine Antwort geht mir wirklich ans Herz! Es freut mich sehr, dass du aus diesem Text so etwas ziehen kannst!
Hast du denn noch irgendwie Kontakt zu dem Freund? Vielleicht würde es ihn freuen, wenn du ihm das auch so sagst! Sicherlich macht das das Erlebte nicht rückgängig, aber es zeigt, dass du dich damit beschäftigt hast. Ich denke, du bist da auch nicht der einzige, der so etwas erst im Nachhinein erkennt…aber es ist auf jeden Fall besser als nie!
…Und ich habe mir den Text nach langer langer laaaanger Zeit auch mal wieder durchgelesen…vielen Dank noch einmal für deinen Kommentar!!! :‘ )