Wir schreiben den 10. Mai 2020. Es ist kurz nach 1800 Uhr und in der Stadt scheint es, als wäre das Leben wieder voll normal. Vielleicht arbeitet das Virus ja nicht am Sonntag?
Mit meiner Lieblingsmaske sitze ich jedenfalls am äußersten Rand der Bank, schlage mein Buch auf und warte auf den Bus…
Aber was ist schon normal? Ist „normal“ relativ? Etwas, das sich nur im Vergleich zu etwas Unnormalem herauskristalisiert? Und was ist dann demnach „unnormal“
„Ich will endlich wieder ein normales Deutschland!“ sagt der Mann, der sich genervt in die zwei Meter große Lücke zwischen mir und den anderen auf die Bank setzt. Rechnerisch wird dadurch ja mein Abstand zur nächsten Person verkleinert, denke ich mir kurz, aber eigentlich ist mir das auch egal. Ich lese weiter.
Seine weibliche Begleitung setzt sich jedoch nicht und legt nur ihre Taschen zwischen uns ab. Ich blicke nicht auf, aber in meiner Vorstellung rollt sie mit den Augen. „Tja, das kannste mal schön vergessen!“ antwortet sie. In einem endgültigen Tonfall, der dem Mann so gar nicht passt. Er grummelt vor sich hin.
Mein Interesse ist erwacht. Ich tue so, als würde ich lesen. Lausche der Unterhaltung. Frage mich selbst, was denn eigentlich normal ist. Doch ich will die zwei neben mir nicht darauf ansprechen und ein philosophisches Gespräch beginnen. Dann würden sie ja merken, dass ich wohl doch nicht so vertieft in mein Buch bin. Außerdem sind sie gerade beim Thema Adolf und dass der ja eh nicht wirklich deutsch war gelandet. Und da will ich nicht einsteigen.
Also frage ich mich:
War die Welt denn vor Corona normal? War das Deutschland vor zwei Monaten denn normal und so, wie ich mir ein Land vorstelle, mit dem ich mich identifizieren kann und in welchem ich gerne lebe?
Meine persönliche Antwort ist eindeutig: Nein. Der Zustand jetzt hat zwar definitiv auch nichts mit „normal“ zu tun, aber ich wünsche mir nicht mehr das „Davor“. Vielmehr wünsche ich mir ein besseres „Danach“, in welchem wir das Gute (Demokratie, mehr Rücksicht aufeinander, bewusster leben, Entschleunigung,…) behalten und ausbauen und das Schlechte (Ignoranz, Krieg und Ausgaben für Krieg, Profitdenken, Kapitalismus, Wirtschaftswachstum um jeden Preis, Hass, Hetze, Populismus,…) ansprechen, bewältigen und Lösungen finden. Bessere.
Und ich weiß, wie utopisch diese Vorstellung ist. Und viele haben sich damit abgefunden, wie es eben so abläuft: Du wählst (falls du überhaupt wählen gehst) meist das für dich geringste Übel oder damit eben die Nazis nicht an die Macht kommen. Oder du glaubst an die „Alternative“, die aber auch keine ist.
Ich bin mir zum Beispiel dessen bewusst, dass die Partei, die ich wähle, nie an die Macht kommen wird. Aber ich wähle sie auch eher, damit sie bestehen bleibt als wichtigen Gegenpol. Auch wenn ich leider manchmal das Gefühl habe, dass nichts von dem, was sie ansprechen, irgendwie zu einer Diskussion eine Ebene höher beiträgt…
Ich finde Politik sollte allgemein transparenter sein. Verständlicher. Nachvollziehbarer. Und zwar für jeden. Und Demokratie sollte für das stehen, was Charlie Chaplin einst im Film „der große Diktator“ gesagt hat. Besonders für die letzten Worte.
Daher sehe ich die ganzen Samstagsdemos so langsam eher so, dass es jetzt in der Pflicht der Politiker ist, genau das zu thematisieren…
Ich bin gewiss nicht für irgendwelche teilweise echt populistischen Freiheitsdemos, aber sehe eben, wie sowas schon wieder diese Gesellschaft spaltet. Und ich glaube durch Ignoranz oder „da steckt ja schon wieder die AfD dahinter“ lösen wir das sich eventuell anbahnende Problem nicht.