Ich sehe was, was du nicht siehst!

Ich verfolge seit geraumer Zeit folgende Philosophie: Ich hasse keinen Menschen. Er tut nur Dinge, die ich nicht okay finde. Viele Leute in meiner Umgebung bezeichnen das als Hass, obwohl man eigentlich keine Berechtigung hat, jemanden zu hassen. Denn man kennt die Person doch eigentlich gar nicht…man kann weder die Gedanken lesen, noch feststellen mit welchen Motiven dieser Jemand handelt.

In der Kneipe merkt man das besonders, wenn man gewillt ist, eine gewisse Neutralität zu wahren. Von links sagt einem dann einer ins Ohr, dass die rechts von mir strohdoof ist und es kein Mann mit ihr aushält. Die rechts von mir sagt allerdings, dass die links von mir Regenschirme klaut und sich immer auf penetrante Weise Getränke von anderen schnorrt, was mir recht egal ist, da ich weder viel Geld habe, noch Regenschirme mag.
Sinnloses, belangloses, aber solche Sachen bekommt man zum größten Teil mit. Zum Glück nicht ausschließlich, denn das würde ich nicht aushalten. Ansonsten weiß man aber wer mit wem und wer nicht mehr und wer nie war. Manchmal haben sich die Stammgäste nichts anderes zu erzählen.

Ich merke in solchen Situationen oft, dass ich ganz anders empfinde, als die restlichen Leute, die immer etwas zum Tratschen und Zerhacken finden. Mir ist das egal. Das bleibt in meinem Kopf solange, bis ich es gebrauchen kann. Ich glaube nicht alles, was man mir erzählt, merke es mir aber.
Die verschiedenen Charaktere, die man so trifft regen einen immer wieder aufs Neue zum Nachdenken an. Ihre ausgespickten Geschichten und das Beziehungsnetz, das sich im Laufe von zwei, drei Jahren in meinem Kopf gebildet hat, ist wie eine Muse. Es zeigt mir irgendwie, dass sogar das unglaublichste möglich sein kann
Dennoch frage ich mich, was die Leute über mich so reden… Vieles bekommt man aber auch so mit, scheint aber nicht so tragisch zu sein.

Es gibt zwei Menschen in V., die nicht sehr beliebt sind. Zum einen ist das mein früherer bester Freund Kai, der an sich mit seinen Geschichten bereits ein Beziehungs-Wirr-Warr anstiftet, dass es einem graust. Wie viele Kinder er jetzt eigentlich von wie vielen Frauen hat, ist mir immer noch ein Rätsel. Es hat es aber damals vor knapp 1 ½ Jahren geschafft, mich zu durchschauen. Er hat mir meine Lebensgeschichte knallhart auf den Tisch gebrettert. Eigentlich hätte er das gar nicht wissen können. Davor war ich ja noch nie mit ihm unterwegs gewesen…ich frage mich immer noch, wie er mich SO gut einschätzen konnte…
Zur Zeit habe ich aber weniger Kontakt mit ihm, da er jetzt mit der Frau zusammen ist, wegen der sich die Bedienung meiner Stammkneipe vor den Zug geschmissen hat. Im Grunde genommen ist allerdings nur dieser Taxifahrer schuld, der mit beiden was hatte. Ich halte mich da lieber auf Distanz. Bei der letzten Frau hat er nämlich dasselbe gesagt, wie bei dieser: „Ach, ich war noch nie so verliebt, mit ihr möchte ich mein Leben verbringen!“

Die zweite Person ist R., der sich in der gesamten Stadt als arbeitsloser Schnorrer unbeliebt gemacht hat. Er soll ein Verbrecher sein – genauso wie Kai. Allerdings empfinde ich da anders. Er sieht zwar so aus, als würde er einem am liebsten den Hals umdrehen, aber der Schein trügt. Er hat nämlich einen Gerechtigkeitssinn, den man nur selten bei Menschen findet. Er hat mich früher immer verteidigt, wenn jemand mich blöd angemacht hat. Und dafür bin ich ihm heute auch noch mehr als dankbar. Insofern habe ich ein ganz anderes Empfinden als die anderen, was ihn angeht. Momentan ist er mit einer Freundin von mir zusammen, die ich letztes Jahr an Fasnacht mit ihrer Tochter kennen gelernt habe. Sie ist die Ex-Frau von jemandem, der einmal einen größeren Konzern in V. geleitet hat.

Und eigentlich gibt es noch eine dritte Person, die nicht gerne gesehen wird…
Vor kurzem hatte ich mit der angeblichen Regenschirm-Kleptomanin ein Gespräch über Jugendliche, das ich mir im Endeffekt allerdings hätte ersparen können.
Da sie die Exfreundin von meinem Dad ist und ich als Kind immer an sie abgeschoben wurde, sieht sie mich, wie meine Eltern Tag für Tag, als Kind. Ich mag das nicht, denn ich bin alles andere als ein Kind, so meine Selbsteinschätzung. Und wenn mir jemand sagt, dass ich erwachsen werden soll, dann spüre ich ein Verlangen nur noch mit Fremdwörtern zu kommunizieren und diesen Jemand in Grund und Boden zu diskutieren. Aber letztendlich kann ich nicht verleugnen, jung zu sein.
Und genau das war unser Thema: Inwiefern kann ein junger Mensch einem älteren das Wasser reichen? Die Leute, die ich so treffe sind um die 40/50/60 und sogar 70! Und keiner, aber auch keiner hat mir bisher solch eine Diskussion praktisch aufgenötigt. Gut, ich habe sie begonnen, aber nur, weil ich es nicht mehr hören konnte. Wenn ich unterwegs bin, egal wo, dann fühle ich mich eben alt und nie jung. Ich kann mich mit den Menschen unterhalten und ich weiß, dass viele mich akzeptiert haben als eine von ihnen. Als jemand, der praktisch die Prüfung bestanden hat. Und wenn dann jemand kommt und mich so sehr herunterstuft und auch noch naiv nennt, dann brennen mir die Sicherungen durch und ich fange nun einmal an zu diskutieren…
Letzten Endes war das alles jedoch ein Witz. Da ich von ihr immer die selben Argumente gehört habe, habe ich irgendwann gemeint, dass ich mich nicht mehr genötigt fühle, dieses Gespräch zu führen.
Zudem habe ich gemerkt, als ich die herumstehenden aufgefordert habe, auch einmal etwas zu sagen, dass mich keiner verteidigt hat. Keiner hat gesagt: Sie sieht nur so jung aus. Oder: Mit ihr kann man sich trotz ihres Alters super unterhalten. Oder wie der Schlosser/der Künstler, immer sagt: „Sie hat Niveau.“ Keiner. Das macht einen irgendwie stutzig, denn ansonsten höre ich solche Sätze von denen ziemlich oft… Ich habe mich daraufhin zum ersten Mal in meinem Leben gefragt, ob ich im Grunde genommen für alles zu dumm bin. Zu dumm, um Dinge zu lernen, zu dumm für die Schule, zu dumm, um einfach zu leben.
Zweifel scheinen wohl meine ständigen Begleiter zu sein. Und wenn einem wie auf dem Gymnasium beinahe nur gezeigt wird, was man alles nicht kann und schon dementsprechend schlimmes an anderen Schulen erlebt hat, dann lebt etwas aus den Tiefen des Unterbewusstseins auf und macht einem alles zu Nichte.
Und so ging es mir in dem Moment, als ich gemerkt habe, dass keiner mehr etwas sagt, obwohl ich mich auch nicht anders als sonst benommen habe.
Ich gehe aber auch im Normalfall davon aus, dass man positives Feedback nur gibt, wenn man zwei Tage später immer noch dazu stehen kann. Oder ist selbst das vergänglich?

Ich bin nicht umsonst so versessen darauf, mit der älteren Generation mitzuhalten. Zu lesen, zu wissen, einfach nicht als jung angesehen werden müssen (womit ich aus mir bisher noch unerklärlichen Gründen ein sehr großes Problem habe).
Mich fragen sie immer, was ich bei den „alten Säcken“ eigentlich will. Ich will gar nichts. Nur reden und dazulernen. Und mit jungen Menschen, die nur Party im Kopf haben, kann man sich eben nicht so gut unterhalten. Bzw. ich lerne nichts von ihnen.

Posted by Journey

Kategorie: Lerntagebuch

Autor: Journey

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