Es war wieder mal einer dieser Abende, die nicht so schön endeten, wie sie begannen. Ein gutes Essen, ein schöner Film, etwas traute Zweisamkeit, …und dann die Realität: Eigentlich geht es uns nicht so gut. Eigentlich ist alles nur Ablenkung vom tristen Dasein und den Problemen.
Ein Streit folgte, der keiner war. Wir schrien uns nie an. Bei unserer Sensibilität reichte es, wenn man den Unmut des anderen spürte, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. Untermalt wurde dies von dem, was wir zueinander sagten, egal wie vorsichtig wir dabei waren. Letzten Endes schliefen wir getrennt – er im Wohnzimmer, ich im Schlafzimmer. In seiner Wohnung war es umgekehrt. Anderes Bundesland, andere Ebene, gleiche Situation.
Probleme nahm man aber auch immer überallhin mit. Oft waren es seine. Sein Auto, das letztes Jahr zum Oldtimer geworden ist, aber nicht fuhr und vor seiner Tür ohne Garage bei Pisswetter vor sich hin gammelte; seine Wohnung, die seine einzige Altersvorsorge war und meistens leer stand, weil er bei mir war; seine Post, die im Haus seiner Frau landete, die im Grunde genommen ihr Leben hatte und sich nicht so häufig meldete; sein unsicherer Krankenversicherungsstatus; seine fehlende Bankkarte, die ihm in meinem Bundesland aber eh nichts gebracht hätte; seine Mutter, die auch immer älter wurde und zusammen mit ihrem Lebensgefährten finanziell gerade so die verschimmelte Mietwohnung stemmen konnte; sein Minijob, der ihn nach wie vor verunsicherte, während mein Bruder ihn am liebsten in Vollzeit übernehmen würde und auf eine Antwort wartete,… alles seine Situation. Mein Problem war hingegen die meiste Zeit nur eins: Ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte bei allem immer nur immer wieder zuhören, denn ich hatte mit der Zeit gelernt, dass meine Lösungsvorschläge nicht hilfreich waren. Natürlich hatte er selbst all das schon durchdacht. Es schwang dabei immer ein „Hältst du mich für dämlich? Wenn ich wüsste, wie, hätte ich längst etwas geändert!“, mit im Raum und so behielt ich meine Gedanken für mich und sog einfach nur still all die Verzweiflung in mir auf, bis es mir zu viel wurde, was immer schneller und häufiger vorkam.
Einige Dramen später wurde auch er stiller, was es nicht besser machte. Denn seine Sorgen suchten ihren Weg auf eine andere Art nach draußen. Seine Mimik und Gestik und sein resigniertes Seufzen zeigten mir deutlich, wie es eigentlich um ihn stand und dass er sich wieder einmal Gedanken machte, bei denen er sich im Kreis drehte und eigentlich jemanden zum Reden gebraucht hätte.
Und erneut zerriss es mich, weil ich ihm das nicht geben konnte. Ich entwickelte Schuldgefühle, weil ich mir in solchen Momenten einfach nur wünschte, weit weg zu sein. Wie ich es auch drehte und wendete: Ich konnte das Gefühl nicht abstellen, ihn durch alles, was ich tat oder nicht tat, im Stich zu lassen.
War ich bei solchen Gedankenschleifen in seiner Nähe, gelang es mir somit kaum, mich abzugrenzen, denn ich wollte ihm natürlich nicht das Gefühl geben, dass er mit all dem alleine war. Wenn wir zusammen sein wollten, dann betrafen mich seine Sorgen ebenso.
Getan hatte er angesichts der Masse an Problemen bisher nicht viel, um an seinem Zustand etwas zu ändern, denn er hatte natürlich auch alle Konsequenzen durchdacht. Für ihn waren die (in seiner Vorstellung zumeist schwerwiegenden) Folgen seines Handelns aber auch deutlich realistischer als der Fakt, dass es nicht unbedingt so enden musste.
So hatte er nun zwar nach vielen Jahren einen Job, aber der war nur auf Minijobbasis, weil sein Versicherungsstatus unklar war und sich durch eine Vollbeschäftigung auf einen Schlag radikal viele Dinge ändern würden, denen er sich nicht gewachsen fühlte.
Der Job als Farbenverkäufer war zudem nicht unbedingt das, was er sich mit seinem fast abgeschlossenen Studium und seinem geschulten fotografischen Auge gewünscht hatte. Aus seiner Sicht war er auch bei weitem nicht so gut darin, wie er es gerne wäre. Außerdem war er leider auch nicht da, wo er eigentlich leben wollte. Er kam zwar erstaunlich gut mit meinem Wohnort zurecht und mochte auch die Gegend, sah aber kaum etwas davon, denn der öffentliche Nahverkehr verkehrte eben nicht im 5-Minuten-Takt und auch nicht an die Orte, die er sehen wollte. Kein Vergleich mit einer Großstadt. Und was wäre, wenn wir zusammenziehen würden und er es bitter bereuen würde, dort so festzusitzen? Was wäre, wenn einer von uns seinen Job verlieren würde? Was wäre, wenn er oder ich krank werden würden? Was wäre, wenn er in 15 Jahren in Rente gehen und er nichts bekommen würde, weil er kaum in die Kasse gezahlt hat in seinem Leben?
Was.
Wäre.
Wenn.
?
Was sollte ich auf all diese unsicheren Faktoren antworten? Im Grunde wollte er nichts mehr als baden, aber nicht nass werden. Wie konnte man einem Menschen denn dabei helfen?
Es fiel mir immer schwerer daran zu glauben, dass ein gemeinsames Leben möglich war und das äußerte ich auch.
So kam es also, dass ich lieber wieder auf seinem Sofa schlief, während er sich draußen durch die laue Sommernacht quälte, um seinen Frust zu kompensieren und ein Foto bei Sonnenaufgang zu machen. Ein Teil von mir freute sich, dass er endlich mal etwas für sich tat. Ein anderer wusste, dass er – obwohl er das Fotografieren in seiner Stadt liebte – viele Gründe finden würde, über die er sich aufregen konnte: Die doofen Menschen, die ins Bild liefen, die alte Technik, die bereits seit Jahren vom Smartphone überholt wurde, das teure Zugticket, das er nicht bräuchte, wenn sein Auto fahrbar gewesen wäre,… und wenn dann auch noch das unberechenbare Wetter nicht so mitspielte, war eigentlich auch der nächste Tag gelaufen. Selbst wenn alles reibungslos verlief, dann war es der Rechner, der nicht so wollte, wie er es sich wünschte, da der Support seines Betriebssystems abgelaufen war und dieser im Grunde wie sein Auto und alles andere veraltet war. Er konnte sich bei seiner Rückkehr nicht einmal mit einem Eis trösten, da sein Kühlschrank ebenfalls nicht funktionierte.
Mit anderen Worten: Alles war festgefahren und ich wusste mir einfach keinen Rat. Mir waren die Ideen mit der Zeit ausgegangen und ich spürte, wie nach und nach alles aus mir sickerte wie der Sand einer Uhr. Woher sollte ich noch die Motivation nehmen? Diese Beziehung war eine Herausforderung für mich. Und ich wusste nicht, ob ich ihr gewachsen war…
Irgendwann schlief ich mit all diesen Gedanken ein, was mir guttat. Schlaf war schon immer eine Flucht für mich gewesen, um einer Gedankenspirale zu entkommen. Ich konnte sie dadurch zwar nicht lösen, aber neuen Mut schöpfen.
Doch es dauerte nicht lange und ein Rütteln an meiner Schulter holte mich aus meiner Traumwelt und ich öffnete die Augen. Nach einem kurzen Blick hatte ich mich in dem von Straßenlaternen beschienenen Raum orientiert und fand mich wieder in der Wirklichkeit. Ich lag nach wie vor auf dem Wohnzimmersofa meines Freundes. Doch der Arm, der mich wachgerüttelt hatte, war nicht seiner. Schlagartig fuhr ich hellwach hoch, krallte mich an der Bettdecke fest und drücke mich an die Rückenlehne. Tastend und die fremde Gestalt fixierend erwischte ich endlich den Lichtschalter und der Raum erhellte sich vollständig.
Ein junges rothaariges Mädchen mit Brille saß kniend vor mir und blickte mich mit verheulten grünen Augen an. Ich erstarrte, denn der Blick war mir so sehr vertraut. Wem ich da nämlich ins Gesicht sah, war… ich. Ich vor etwa zehn Jahren. Dennoch konnte ich mir ein „Wer bist du?“ nicht verkneifen. Offenbar war das nicht die Frage, die sie hören wollte, denn sie schwieg und weinte still weiter.
Mit einem Mal liefen auch mir die Tränen die Wange hinunter, wie so oft in den letzten Wochen und Monaten. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte. Weil ich es schon mal erlebt hatte, wie es ist, wenn man sich nicht mehr begegnen kann. Wenn man beginnt mehr zu schweigen als zu reden, weil man zu sensibel geworden ist für Worte und die Missverständnisse Oberhand genommen haben. Wenn man lieber flieht vor der Beziehung und dem anderen aus dem Weg geht, weil jede Mimik und jede Gestik einen verunsichern und den Playbutton eines alten Films drücken, der einen verurteilt.
Natürlich war es nicht mein Partner, der das tat. Ich war es. Er war nur der Auslöser für ein altes Problem, das ich in mir trug. Und natürlich drückte er nicht mit Absicht die Knöpfe, die den Selbstzerstörungsprozess in mir auslösten. Er war ebenso in seinem alten Film gefangen, in dem man alles richtig gut durchdenken musste, bevor man handelte und ja keine Fehler machen durfte. Gleichzeitig war das meiste in seinem Leben, was er gemacht hatte, entweder kaputtgegangen oder umsonst gewesen. Sich nach solchen Erlebnissen mit Begeisterung auf all die neuen Chancen zu stürzen, die er durch mich bekam, wäre sogar für einen weniger sensiblen Menschen, der auch weniger mit sich haderte, etwas viel abverlangt…
Ich erkannte all das, während ich mir selbst in die Augen sah. Und ich begriff, dass ich damals definitiv nicht so weit war, so eine Beziehung zu führen, die mich nicht nur positiv triggerte, sondern auch das Negative in mir hervorholte. Die Frage war also: „Bin ich heute bereit dafür?“
Über dieses Thema will ich eigentlich schon sehr lange schreiben, schaffte es bisher nur einfach nicht, irgendwelche Worte dafür zu finden…
Wenn ich auf die letzten mehr als zwei Jahre Beziehung zurückblicke, so gab es mehr schöne Momente als schlechte und ich habe in Observer jemanden gefunden, mit dem ich innerlich so vieles teilen kann wie mit keinem anderen Menschen. Er bedeutet mir unglaublich viel als Mensch, der er ist, selbst wenn es oft nicht so einfach ist.
Leider nehmen die schlechten verkopften Momente in letzter Zeit zu und ich merke, dass es mir schwerfällt, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass wir eines Tages glücklich zusammenleben (ob nun in einer oder zwei Wohnungen).
Wir sind beide so, dass wir es am liebsten alleine schaffen wollen und ohne Hilfe. Sein Traum ist es ja, mal ganz unabhängig zu leben und weder von seiner Frau, seiner Mum noch von mir Hilfe zu bekommen. Ich kann das verstehen, denn auch ein großer Teil meines Selbstwerts, meiner Freiheit und meines Wohlbefindens gründet darauf, dass ich alleine klarkomme, vor allem finanziell. Dass ich mich nicht zu sehr abhängig mache, weder von meinem Partner noch von meiner Familie.
Ich weiß nicht, wie sich all das vereinbaren lässt. Ich weiß nur, dass ich es irgendwie aufhalten will, dass sich mein Blick auf die Beziehung und auf mein Leben so abgrundtief schwarz färbt. Ich will die ganzen Dämonen nicht mehr bei mir haben, die keinen Ausweg sehen außer dem Ende (entweder von der Beziehung oder von mir). Aber bisher habe ich dafür einfach kein Rezept…