Der frustrierte Busfahrer

Es war Nacht. Genauer gesagt: Es war eine Freitagabendnacht. Obwohl damit normalerweise für viele das Wochenende eingeleitet wurde, begegnete mir auf dem Weg zum Busbahnhof niemand. Keine an- oder betrunkenen Kneipengänger, keine Partypeople, keine Menschenseele. Der Bahnhof lag nachts um kurz vor eins da wie ausgestorben. Nur ein paar Autofahrer signalisierten mir, dass ich nicht der einzige Mensch auf der Welt war. Ansonsten war es so still, dass ich mich kurz fragte, ob der Bus wirklich fahren und mich zur Bushaltestelle vor meiner Tür bringen würde. Aber ich war guter Dinge und vertraute darauf. Ich sah nach der Zeit: 00:45. Um 01:00 Uhr sollte der Bus fahren und er war natürlich noch nicht da. Aber es war gut, dass ich es schon war. Ich hatte nämlich Bedenken, weil meine Schuhe es mir heute nicht erlaubten, mich gefühlt schneller als drei km/h vorwärts zu bewegen. Mir war an diesem Tag nämlich nach etwas mehr von meinem „alten Selbst“. Zwei Tage zuvor war ich 34 geworden und als ich mich dazu entschloss, meinen neuen schwarzen Gothic-Rock anzuziehen mit den Spitzen und Ringen und Schleifchen merkte ich, wie sehr mir das eigentlich fehlte. Ich sehnte mich danach, mal wieder „ich“ zu sein und diesen Teil von mir auszuleben. So zog ich mich also gothicmäßig an und weihte auch meine Strumpfhose mit den schwarzen Katzenköpfen als Overknees ein, die ich seit Jahren in der Schublade hatte. Dazu trug ich Boots. Hohe schwarze Boots in Lackoptik mit Schnallen und mit mindestens 13 cm Plateauabsätzen. Ich war also ziemlich aufgetackelt und weil ich nicht wusste, ob es kalt werden würde, zog ich mir meinen langen schwarzen Mantel über, der fast bis zum Boden ging. Im Alltag trug ich kaum noch besondere Dinge und war im Grunde sehr funktional geworden. Ich schminkte mich auch kaum mehr, weil das doch sehr zeitintensiv war und ich mich ja dann auch wieder abschminken musste. Eigentlich tat ich es nur noch im Urlaub gelegentlich oder eben zu Anlässen wie diesen. Meine beste Freundin Maze hatte mich nämlich zu einer Party eingeladen, die sie anlässlich unseren Geburtstags bei sich zu Hause gab. Eine Post-Birthday-Party sozusagen, weil Freitagabend einfach besser für ein Beisammensein war, als ein Donnerstag unter der Woche.

In diesem Outfit saß ich nun also sehr alleine am Busbahnhof und wartete. Irgendwann gesellte sich dann ein älteres Paar dazu, das wohl auch den Nachtbus nehmen wollte. Immerhin war ich nun nicht mehr die letzte Person auf Erden, was mich, ohne dass ich es mir erklären konnte, etwas sicherer werden ließ.
Als dann kurz vor eins ein Kleinbus mit der Aufschrift „Depotfahrt“ vorfuhr, war klar, dass es sich nur um diesen einen Nachtbus Nr. 25 handeln konnte, denn ansonsten fuhr ja nichts um diese Zeit in dieser kleinen Doppelstadt. Vielleicht würde er die Anzeige ja auch noch ändern. Im Bus stimmte sie nämlich auch nicht, weil der Monitor die nächsten Haltestellen für die Linie 14 anzeigte und diese noch nicht mal richtig. Uns drei Fahrgästen war allerdings klar, dass es gewiss nicht die 14 war, in der wir saßen. Stehen geblieben war der Monitor jedoch nicht, denn die Zeit stimmte. Es war eine Minute vor eins und der Fahrer fuhr los. Irgendwie ahnte ich bereits, dass irgendetwas nicht stimmte. Als der Bus dann nur so durchraste und an etlichen Haltestellen vermutlich mehrere Minuten zu früh vorbeifuhr, stellte ich mir vor, wie der Mann und die Frau aussteigen würden und der Busfahrer sich anschließend zu mir, dem einzig verbliebenen Fahrgast, umdrehen und sagen würde: „Weißt du, ich hab echt keinen Bock mehr auf meinen Job. Machen wir’s kurz: Wo soll ich dich absetzen?“
Und obwohl ich den Busfahrer in dem dunklen Bus nur schemenhaft als Spiegelung in der Fensterscheibe der Fahrertür sehen konnte, ahnte ich, dass diese Fantasie gar nicht so abwegig war. Er strahlte zumindest eine Frustration aus, die sich für mich wie ein Schleier über den gesamten Bus legte.
Nun, wir fuhren weiter, immer weiter. Irgendwann hielt der Busfahrer auch mal an Haltestellen, aber es stieg ohnehin keiner mehr ein.
Kurz vor dem anderen „großen“ Busbahnhof verschätzte sich dann der Fahrer und fuhr sehr hart über die Bordsteinkante vor einer Ampel. Ein paar Zentimeter weiter und er hätte das runde blaue Schild mit dem Pfeil nach rechts unten überfahren, das normalerweise darauf hindeutete, dass man die Straße auf dieser Seite nutzen sollte, nicht den Bordstein. Es knallte heftig und ich spürte regelrecht wie der Bus litt und seinen Schmerz durch den Schlag auf die Vorderradachse. Keinem war etwas geschehen, aber jetzt war eindeutig zu erkennen, dass der Fahrer irgendwie durch war. Einen Moment dachte ich: „Oh Gott, werde ich überhaupt lebend zu Hause ankommen? Sollte ich vielleicht lieber aussteigen und den Rest laufen?“ Aber dann vernahm ich, dass jemand sprach. Ich bemerkte es erst gar nicht und die Worte brauchten auch eine Weile, bis sie bei mir ankamen:
„Erst Rufbus, dann H. und dann weiter ohne Pause das hier…“
Oh weh, es war also nicht nur der Bus, der gerade litt. Eigentlich war es der Fahrer. Er schien wirklich angepisst zu sein von seinem Job. Aber eigentlich war er unglücklich. Frustriert. Nervlich am Ende von den Strapazen der letzten Stunden.
An der nächsten Station stieg er aus. So sehr er seinen Job wohl auch verfluchte, sein Bus schien auch ihm nicht aus dem Kopf zu gehen. Ich stellte mir vor, dass er den Schmerz, den dieser in dem Moment des Aufpralls erlitten hatte, ebenso gespürt hatte wie ich. Er lief also einmal um ihn herum und besah ihn sich von allen Seiten, vor allem die Linke. Ich hoffte, dem Bus ging es gut… aber ich vermutete, dass er besser aussah, als der Fahrer, ein etwas dickerer äußerst geknickter Mann.
Am Busbahnhof stiegen nochmal zwei Jugendliche ein, eine Station später stieg das Paar dann aus und auch der Busfahrer nochmal. Man hörte, dass er aus seiner Wasserflasche trank. Dann platschte es und ich sah es zwar nicht, stellte mir aber vor, wie er den Rest der Flasche über sich goss, um sich wach zu halten. Ich hörte regelrecht sein inneres Fluchen, das schwankte zwischen „Scheiß Arbeitgeber, scheiß Leben…“ und „Fuck, ich Idiot.“
Nach kurzer Zeit fasste ich einen Entschluss; wusste mit einem Mal, was ich nun tun würde. Und ich bereitete mich die restlichen 19 Minuten darauf vor.
Da der Nachtbus sehr viele Runden in mir unbekannten Gebieten drehte, bevor er an meine Haltestelle kommen würde und die Anzeige immer noch falsch war, musste ich aufmerksam sein, um den richtigen Moment für die Haltewunschtaste nicht zu verpassen. Als ich endlich wieder wusste, wo ich war, drückte ich rasch die Taste und stand schon mal auf. Der Bus hielt, mir wurde eine Tür geöffnet und das Licht ging an. Dann tat ich es: Ich drehte mich zum Busfahrer, sah in sein lethargisches von mir halb abgewandtes Gesicht und drückte ihm drei Lindt Lindor in die Hand. Anschließend sagte ich einfach nur: „Danke. Es kommen auch wieder bessere Tage!“ Und ich war überzeugt davon. Weil es immer so war. Und weil ich mich selbst auch immer wieder daran erinnern musste.
Ich lächelte ihn an und legte so viel Wärme und Mitgefühl hinein, doch er starrte nur auf die Lindor, die ich ihm in seine Hand gelegt hatte und konnte seinen Blick nicht davon abwenden. Er bedankte sich, wusste aber auch nicht mehr zu sagen. Damit hatte er auch nicht gerechnet. Warum schenkte gerade ihm eine junge schwarz gekleidete Gothicfrau im Minirock mit tiefen Ausschnitt und 13cm-Lack-Plateuboots so etwas mitten in der Nacht!? Warum verbreitete sie so viel positive Energie, obwohl er seinen Job gerade so mies gemacht und dafür gewiss keine Belohnung verdient hatte?
Nun, ich fand, das hatte er. Er sollte etwas haben, was ihn durch diese Nacht bringen würde. Er sollte etwas zum Nachdenken haben, was ihn von all dem Mist ablenkte. Und ja, dass irritierte ihn zutiefst und zwar sichtlich. Er war sogar so irritiert, dass er nach einer Minute immer noch an der Haltestelle stand und nicht wie bisher sofort wieder mit Vollgas weiterfuhr. Vielleicht aß er auch ein Lindor in dem Moment. Vielleicht hatte ich ihm nicht nur mit der Süßigkeit den Tag versüßt, sondern einfach durch die Geste. Ich stellte es mir vor und lächelte.

Posted by Journey

Kategorie: Allgemein

Autor: Journey

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1 Kommentar        

Moin Lui! 🙂

 

Ok, dein Text bringt mir folgende Erkenntnisse:

1. Fahre niemals nachts mit dem Bus in VS!

2. Auch nach 34 Lebensjahren kann dich eine lokale Busfahrt in VS in unbekannte Gefilde führen

3. Busfahrer in VS scheinen sich nicht grundlegend von denen in Großstädten zu unterscheiden

4. Für leidgeplagte Busse, Bahnen und Fähren sollte ein psychologischer Notdienst eingerichtet werden

5. Ich hätte gerne ein Bild von der Szene, wie der leidgeplagte, frustrierte und potentiell suizidgefährdete Busfahrer einer jungen schwarz gekleideten Gothicfrau im Minirock mit Spitzen, Ringen und Schleifchen, mit tiefem Ausschnitt und 13cm-Lack-Plateuboots und Strumpfhose mit schwarzen Katzenköpfen als Overknees mitten in der Nacht irgendwo in VS begegnet und mit einer handvoll Lindors zurückbleibt, bevor er seine Höllenfahrt fortsetzt… 😀

 

Nein, so etwas kann man sich nicht ausdenken, das muß eine "True Story" sein, typisch Lui! 😉

 

Aber mal ernsthaft, natürlich habe ich beim Lesen mehr als einmal schmunzeln müssen und auch mitgelitten. Eines wird dabei wieder einmal ganz deutlich für mich: nahezu jede Situation im Leben hat das Potential, vor allem auch etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Wie reagiert man auf etwas und/oder jemanden, wie verhält man sich, welche Gedanken beschäftigen uns, welche Emotionen durchleben wir dabei. Ich kann mir gut vorstellen, wie viele unterschiedliche Reaktionen auf das geschilderte Szenario denkbar gewesen wären, an diesem Abend hast du jedoch vor allem etwas über dich reflektieren können, über dein Mitgefühl. Die 4 Säulen der Empathie waren dabei das, was mir sofort in den Sinn kam. Ich finde, du hast toll reagiert! Vielleicht wirst du nie erfahren, wie die Fahrt weiterging, was den Busfahrer so frustriert hat und ob der Bus zum Service mußte, aber du hast dafür etwas über dich erfahren, und ich finde es schön, dass du uns auf deiner kleinen Reise wieder ein Stück mitgenommen hast. Die Geschichte mag im Kern vielleicht simpel sein, aber da steckt so viel darin, das man vielleicht nur mit dem Herzen erfassen kann… <3

 

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