Neue und alte Freunde

Ich war wie immer auf dem Weg in die Kneipe, da sah ich schon ein bekanntes Gesicht ins Nest gehen: den Rechtsanwalt. Er nickte mir kurz zu, ich nickte zurück und folgte ihm in die Kneipe, wo ich „Hallo“ in die Runde sagte. Es waren viele bekannte Gesichter ohne und mit Namen da. Ich setzte mich ganz nach hinten an den Rand der Theke. Der Wirt war froh mich zu sehen, sah was ich anhatte, grinste und fragte etwas, was ich öfters von ihm hörte: „Ohhh…Was hast du heute vor?“ Ich lächelte und sagte wie immer „Nichts.“ Ich dachte eigentlich auch an nichts Bestimmtes, als ich mich für die Kneipe schick machte. Der Wirt meint wohl, man sehe die Arbeit, die ich mir angetan hatte und man würde das alles nur machen, wenn man etwas Bestimmtes vorhätte.
Er sagte, er habe Jo und den Pseudo-Engländer schon gesehen, aber die seien essen gegangen. Mir kam in den Sinn, dass das Parkhotel nach dem Brand wieder offen haben musste und meinte dann: „Das Parkhotel hat doch wieder offen, oder? Vielleicht sind die dort…“ Ganz sicher war ich mir jedoch nicht, aber der Wirt war sich sicher, dass ich mir sicher war und hatte nun wieder etwas, für das er sich begeistern konnte und dass er nun jedem aufbinden musste. „Die kommen nachher alle. Weißt du, das Parkhotel hat wieder eröffnet…“ sagte er nun zu jedem, auch wenn niemand wusste, was und wen er genau damit meinte. Wal-y, seine Frau Fran und Flocke, der Hund der beiden, kamen herein und Fran verbreitete wie immer gute Stimmung. Sie sah mal wieder einfach nur cool aus: Stiefel mit hohen Centabsätzen und ein Fellhandtäschchen im Leopardenlook. Ich erzählte ihr von meinem Urlaub und wir tranken ein Glas Sekt auf den Hochzeitstag von ihr und Wal-y. 21 Jahre waren die beiden nun schon verheiratet. Sie erzählte mir auch noch, dass sie ihn an seinem Geburtstag geheiratet habe, damit er auch ja nicht den Hochzeitstag vergesse.
Irgendwann kam Carla ins Nest und gesellte sich zu uns. Der Wirt wollte sie zur Begrüßung küssen, doch sie wich aus, zeigte auf sein Hemd und sagte: „Ja wie siehst du denn aus? Zerrissenes Hemd…“ Diese Geste brachte Fran auf 180 und sie regte sich fürchterlich auf. Das könne man doch nicht machen und sie würde gar nichts Schlechtes an dem Hemd sehen. Ich sah auch nichts. Daraufhin zeigte Carla uns einen losen Saum am Hemd, den man, wenn man nicht wüsste, dass das nicht so sein sollte, gar nicht bemerken würde. Und Fran ließ jetzt erst recht nicht locker und meinte nun zum Wirten: „ICH halte zu dir! Also wenn mein Schatzi mir ein Bussi geben wollte, könnte ich nie so etwas sagen, auch wenn ich da was am Hemd sehen würde! Erst würde ich ihm den Bussi geben und dann etwas sagen…und wenn mein Schatzi mich fragen würde ‚Ja wie siehst du denn aus?‘ würde ich beleidigt sein…“ Wir diskutierten dann eine Weile darüber und ich sagte, dass mir so etwas nichts ausmachen würde. Nun, ich beschäftige mich mit solchen Themen eher selten.
Fran war weiterhin auf Fehlersuche und beobachtete alles ganz genau. Dann sagte sie: „…und überhaupt ist das der Fehler der Hausfrau, die das schon längst hätte nähen sollen! Carla, du bist eine schlechte Hausfrau!“ Und Carla zündete sich eine Zigarette an, trank ihren Tee und sagte dann lachend: „Das nehme ich in kauf, denn ich bin ja keine Hausfrau.“ Fran, die zurzeit Hausfrau ist und sich daheim zu Tode langweilt, regte sich immer noch auf.
Neben uns saß noch eine Frau, die uns zusah, aber nicht viel hinzufügte. Sie hörte sich lieber die Musik an, so schien es. Fran stellte mich ihr vor, da sie annahm, jeder müsse meinen Dad unbedingt kennen. Doch die Frau kannte mich auch so und dafür U. überhaupt nicht. Und zwar war sie die Arbeitskollegin vom Maserati-Fahrer, den ich allerdings schon ewig nicht mehr gesehen habe. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder an sie. Sie saß mal mit ihm im Nest.

Carlas jüngster Sohn kam auch kurz rein, ging zu seiner Mum und begrüßte sie mit den Worten „Hi Mama!“ Und sie legte gleich mit ihren Fragen los: „Was geht? Wohin gehst du? Was machst du? Wo warst du? …Gibt’s gute Nachrichten?“ Er antwortete einfach nur „Nee…“ Carla fragte ihn, ob er einen Tee wolle und er antwortete: „Nee n‘ Bier…oder nee, bekomm ich n‘ Radler?“ Daraufhin bekam er ein Radler und gesellte sich zu dem Teil der Theke, wo der Polizist P. und der Rechtsanwalt standen.
Fran verschwand nun wieder, versprach aber wieder zu kommen. Sie und Wal-y würden nur mal mit Flocke spazieren gehen. Ich unterhielt mich daraufhin eine Weile mit der Frau, die neben Fran saß, bis ihre Freundin kam. Ich setzte mich mit ihnen an einen Tisch.
Dort erwarteten mich wieder die typischen Fragen, was ich denn in der Kneipe mache und warum ich nicht unter Gleichaltrige gehe. Und ich sagte wie immer, dass ich mich mit vielen Jugendlichen nicht so gut verstehe und ich lieber unter älteren Leuten sei. „Außerdem kenne ich hier schon fast jeden.“ fügte ich noch hinzu. Das fanden sie toll, akzeptierten es so und machten mir keine Vorwürfe über meine „verschwendete Jugend“.
Lizzy, die Arbeitskollegin vom Maserati-Fahrer, erzählte mir, dass sie eine Tochter habe, die auch 18 sei. Und sie sei ganz anders als ich. Ich wäre aber auch eine Ausnahme, denn keine 18-jährige setzt sich einfach so in die Kneipe zwischen über 40 und 50-jährige. Und ich bekam sogar etwas zu hören, was mir noch nie jemand sagte. Lizzy und ihre Freundin Bonnie meinten, ich habe Selbstbewusstsein. Da sich nicht jeder einfach so hier reinsetzen könnte. Und Jugendliche würden das schon gar nicht machen. Mit mir könne man sich auch gut unterhalten, was mit vielen in meinem Ater nicht so gut möglich ist. Das sagte der Maserati-Fahrer auch schon. Ich war gerührt und wir unterhielten uns noch eine ganze Weile darüber, was an der heutigen Jugend nicht so toll sei. Oder besser gesagt, Lizzy packte Punkto Jugendliche richtig aus und sprach mir aus der Seele. Dann merkte sie, dass ich ja eigentlich auch in diesem Alter sei und entschuldigte sich. Ich sagte, das mache nichts. Ich sei auch erst wenigen Jugendlichen begegnet, die anders seien und mit denen man sich nett unterhalten könne.
Dann erzählte Lizzy mir eine Geschichte, die sich bei ihr im Alter zwischen 13 und 14 abgespielt hatte. Damals hatte sie einen Ferienjob mit einer Freundin in F. angenommen. Und wie das in dem Alter so war, schminkten sie sich und trugen Schuhe mit hohen Absätzen. Die zwei lernten natürlich auch eine Gruppe von Jungs dort kennen. Und einer hatte sich etwas in Lizzy verguckt. Als der Ferienjob zu Ende war, kam er sie eines Tages besuchen. Sie sah aus dem Fenster, wie er ihren Vater nach „der Lizzy mit den langen schwarzen Haaren“ fragte. Doch ihr Vater schickte ihn weg und die Mutter holte ihn zurück und sagte ihm, sie würde gleich kommen.
Das sind die wenigen Momente, in denen ich denke, ich verpasse etwas. Wenn andere mir erzählen, was sie in ihrer Jugendzeit erlebt haben, fehlt MIR irgendetwas. Aber vorbei ist vorbei. Prinzipiell gesehen war ich selbst Schuld, dass ich nichts erlebt habe. Ich war zu lange Kind gewesen. Zu lange unschuldig. Und jetzt bin ich mit den Informationen übers Ziel hinausgeschossen, wie man so schön sagt. Ich gebe zu, manchmal vermisse ich etwas. Aber dann denke ich wieder, dass ich dafür etwas anderes habe und bereue nicht, wie ich meine letzten Jahre gelebt habe. Sonst wäre ich nicht die, die ich heute bin.

Unser nächstes Thema war Musik. Wir alle lieben die CDs, die der Wirt immer abspielt. Darunter sind z.B. Hits wie Black Velvet von Alannah Myles, Supergirl von Reamonn und Keep on Running von der Spencer Davis Group. Und da wir alle die Musik haben wollten und der Wirt sie ungern an Leute verleiht, kamen wir auf die Idee, dass wir eines schönen Sonntags doch einfach unsere Laptops mitbringen und uns die CDs draufkopieren könnten. Aber nicht ohne Belohnung. Wir dachten uns also, dass wir ihm zum Dank einen Kuchen backen. Und da ich eine gute Dichterin bin, genauso wie Lizzy, würden wir ihm noch ein extra Gedicht dazuschenken. Soweit der Plan. Ich bekam Bonnies Handynummer und würde sie am kommenden Donnerstag anrufen um alles zu besprechen.

Während ich so bei den beiden Frauen saß, kamen wieder viele Bekannte ins Nest. Darunter auch Jo, der mir zuwinkte, Jens, der mir zur Begrüßung auf die Schultern klopfte, Fran und Wal-y, meine Friseurin und ihr Freund, Ralf und Frank. Mein Dad war auch gekommen.

Irgendwann gingen die zwei Frauen und Jo sprach mich an. „Was macht DU denn noch hier? Ich…ich dachte du wärst in Amerika?!“ Ich antwortete: „Die Frau aus Amerika kommt doch erst nächsten Monat. Dann besprechen wir alles.“ Und er sagte nur: „Ah…und weißt du, was man in Amerika zu…äh…Knitterscheißdreck sagt?“ Ich sah ihn verblüfft an, weil er damit meine Bluse im Knitterlook meinte. Dann fragte ich doof: „Wieso?“ Und er meinte: „So was hat man im 13. Jahrhundert getragen. Sagt dir Marie Antoinette etwas?“ Ich stand auf und war auf 180, denn er beleidigte mich, wie er es so gerne bei jedem tut. Diesmal war wohl ich sein Opfer.
Sogar ihm war mein Killerblick nicht entgangen, also krallte er mich und sagte zu seinem Vater, der neben ihm stand: „Darf ich dir meine zukünftige Ehefrau vorstellen? Diese Frau werde ich demnächst heiraten!“ Und an mich gewandt: „In Zukunft wirst du dich mit ihm auseinandersetzen müssen und er ist schlimmer als ich.“ Ich sagte nur: „Es gibt niemanden, der schlimmer ist als du.“ Der Vater von ihm war ganz amüsiert, da sein Sohn ja so witzige Sachen sage. Und ich war einfach nur betroffen, dass er meine Bluse beleidigt hat. Und mir einem Schlag wurde mir bewusst, was Fran gemeint hat als sie sich über Carla aufgeregt hat. Und als sei das nicht genug, war ich auch noch in seinen Augen faul und würde nichts arbeiten. Ich sagte ihm, ich würde arbeiten, was er mir nicht glaubte. Ich zeigte sogar auf meinen Dad mit den Worten „Frag ihn!“ Doch das interessierte Jo natürlich wenig und ich warf ihm ein „Idiot“ an den Kopf und setzte mich wieder zu Fran an die Theke. Dort bekamen wir Prosecco, da Jürgen Geburtstag hatte, und noch einen Schnaps von dem niemand weiß woher er kam. Ich haute den wie immer auf Ex runter. Fran nippte an ihrem Glas und sah mich dann mit großen Augen an, da man so etwas anscheinend nicht von mir erwarten würde. Aber so schluckweise, wie sie ihn trank, kann ich das nicht. Ich setze lieber nur einmal an und dann Hau-weg-den-Scheiß, wie der Mann von Charlotte so schön sagt.

Jo stand die ganze Zeit neben Fran und ungeschickt wie er war, rammte er ihr den Ellenbogen in den Arm, als er sich von ihr wegdrehte. Sie drehte ihn wieder zu sich mit den Worten: „Ein schöner Rücken kann auch entzücken.“ Er sagte flüchtig „Entschuldigung“ und drehte sich wieder weg von uns. Ich sagte, sauer wie ich war, er sei ein Arschloch. Fran meinte, dass ich unrecht habe und fragte dann ihren Mann: „Du Schatz? Julia meint Jo sei ein Arschloch. Was meinst du?“ Wal-y schüttelte den Kopf. Und auf einmal drehte sich Jo wieder schlagartig zu uns um. Wir sahen ihn alle an und Fran meinte: „Nee, er ist kein Arschloch.“ Ich warf Jo einen bösen Blick zu und meinte: „Doch.“ Und er meinte nur perplex, weil wir ihn immer noch alle ansahen: „Also ich hab keine Ahnung wovon ihr redet…“ Ich meinte daraufhin: „Über dich!“ Wal-y, der wohl noch einmal genauer über Jo nachgedacht hatte, meinte später: „…er ist doch ein Arschloch…“ Ich meine, er gibt es sogar selbst zu und stellt sich den Leuten so vor: ‚Hallo, ich bin Jo, auch bekannt als Arschloch…‘ Wer sich selbst so runtermacht, muss sich nicht wundern, wenn es andere auch tun.

Ich sah, wie auch der Rentner, mit dem ich mich einmal so nett unterhalten hatte, wieder da war. Ich sagte ihm „Hallo.“, kam aber vorerst nicht weiter. Fran war schon wieder weg und ich gesellte mich nun zu Frank, der mich mit offenen Armen und den Worten „Meine Kleine Schwester!!“ empfing. Dann nannte er mein Hemd stylisch und meinte, der Knitterlook sei ja gerade in. Ich bedankte mich für sein Kompliment und sagte, dass Jo da anderer Meinung sei. Er wollte nicht über ihn reden. Also redeten wir darüber, dass wir mal Essen gehen sollten völlig unabhängig von der Wette. Ich willigte ein, denn ich mag Frank. Er ist ein guter Freund.

Jo war mal wieder abgehauen ohne Tschüss zu sagen. Der ältere Herr saß nun also alleine da und ich beschloss, mich zu ihm zu setzen. Wir stellten uns diesmal mit Vornamen vor. Er hieß W. und erzählte mir wieder etwas von sich. Seine Frau sei tot und er lebe momentan bei seiner Tochter und seinen drei Enkelkindern hier in V., soweit ich das richtig verstanden habe. Seine zweite Tochter wohne in D., habe aber keine Kinder.

Und natürlich tauchte Ikki wieder auf und quatschte mich voll, sodass ich fast vom Stuhl kippte. Ich versuchte von ihm wegzukommen, was ich auch nach langem hin und her schaffte. Ich wendete mich wieder an den Rentner. Er fragte mich natürlich, ob meine ersehnte Person auch da sei. Ich sagte, sie wäre da gewesen, sei jetzt aber nicht mehr da. Irgendwann erwähnte er das Wort Vaterfigur, was mir seltsam vorkam. Mir fiel dazu nur ein, dass Töchter, die keine gute Beziehung zu ihrem Vater haben es auf ältere Männer absehen. Gerontophilie nennt man das, ist also das Gegenteil von Pädophilie. Pädophil ist man nämlich, wenn man sich zu jüngeren hingezogen fühlt. Ich sagte ihm, ich suche keine Vaterfigur. Nur komisch, dass Gerontophilie bei mir einen Sinn ergeben würde. Vielleicht bin ich es ja? Wer weiß das schon…wer weiß, was er alles für psychische Krankheiten hat. Ich denke jeder hat etwas an der Psyche, nur niemand gibt es zu, weil sie es entweder unbewusst verdrängen oder bewusst verdrängen oder denken, das sei normal so, wie es ist.

Mir ist dazu fogendes „Gedicht“ eingefallen:
Ich sehne mich nach einem Vater
Nach einem Mann, der mich in die Arme schließt
Ich sehne mich nach Liebe
Nach jemandem, der mich nicht abschiebt
Ich sehne mich nach der Ewigkeit
Doch ich weiß nicht wie sie zu erlangen ist
Ich sehne mich nach der Umarmung des Mannes, den ich liebe, nach unserer gemeinsamen Ewigkeit. Bis in den Tod und darüber hinaus.

Wenig später gab er mir einen Schnaps aus. Doch irgendwann war ich zu müde um weiterzureden. Also verabschiedete ich mich von denen, die noch da waren und ging.

Posted by Journey

Kategorie: Kneipentagebuch

Autor: Journey

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