(Mal wieder eine Kurzgeschichte…)
Ich beobachte. Ich sitze eigentlich immer nur still da und beobachte, was vor sich geht. Seit Jahren bin ich unterwegs in allen möglichen Kneipen, in Cafes, sitze auf Parkbänken und sehe den Leuten zu. Höre mir an, über was geredet wird, tarne mich mit einer Zeitung oder Zeitschrift. Ich ergreife selten das Wort, obwohl ich immer am besten über die Dinge Bescheid weiß; das würde ich zumindest behaupten. Aber eigentlich, ja eigentlich bin ich Schriftsteller. Gepackt vom ganz normalen Wahnsinn…
„Guten Tag!“ Ich blicke mich kurz um. Zwei Beine kommen auf mich zu bzw. sie scheinen kein Ende zu nehmen. Eigentlich gehören sie einer Frau. Ich blicke ihre Schuhe an und schätze die Absatzhöhe auf 11 cm. Des Weiteren trägt sie einen Minirock. Und ihre Augen fixieren mich. Sie sieht sehr jung aus, ca. 17, und will wohl unbedingt neben mir sitzen, obwohl noch viel Platz woanders ist. Mir ist das gleich, also lasse ich sie gewähren. Mich wundert es nur, dass sie in diese Kneipe kommt. Ein Mädchen ihres Alters passt hier nicht so ganz rein. Alle hier sind doppelt so alt wie sie…
Ihre roten Haare fallen über ihr Gesicht, als sie sich die Jacke auszieht. Darunter trägt sie nur ein Top. Dass es Winter ist, scheint sie nicht zu stören. Auf dem Weg zum Kleiderständer ergreift ein jemand ihren Arm und meint, dass sie trotz der Kälte sauheiß sei. Dieser Jemand muss um die 40 sein, also kaum älter als ich. Meine Neugierde gegenüber allen Menschen, die ich das erste Mal sehe, bzw. nennen wir es „neutrale Sympathie“, schwindet bei diesem Mann ins Bodenlose.
Sie scheint ihn allerdings gut zu kennen, denn sie lacht kurz und tauscht mit ihm Unwichtigkeiten aus. Ich frage mich, ob sie so einige hier noch näher kennt. Ihr Outfit ließe darauf schließen… Aber erst mal abwarten. Vorurteile sind meist unangebracht.
Das Mädchen kommt nun wieder, lächelt mich an und bestellt ein Bier. Das sollte meine erste Begegnung mit Julia Key sein…
Ich weiß nicht wie, aber damals kamen wir gut ins Gespräch. Sie fragte keine langweiligen Wie-geht-es-dir-mir-geht-es-gut-Fragen und wenn, dann schaffte sie es all dem auch noch etwas Interessantes abzugewinnen. Sie selbst war 20, wie sich herausstellte, und andererseits im Kopf undefinierbar alt. Sie wusste bei weitem nicht mehr als ich, aber dennoch genug, um sie als Gesprächspartnerin zu akzeptieren. Wie ich es am Anfang bereits erwähnt habe, rede ich nicht sehr viel. Doch als sie anfing über das Leben zu sinnieren und sich für meines, so unbedeutend man es auch nennen mag, zu interessieren, fing sie Feuer und Flamme. Sie selbst schrieb ebenfalls über diese und jene Dramen aus ihrem Leben und dem Leben der anderen. Mit 20 bereits Dramen? Das wunderte mich doch sehr. Und ich ließ sie erzählen.
Und als sie mir von ihrer verkorksten Jugend, ihrem anonymen Schriftstellerdasein und der Liebe zu Lebensgeschichten und zum Alter erzählte, ging mir irgendwie das Herz auf. Sie inspirierte mich in ihrer Art, wie es nur wenige Frauen schaffen. Und schon gar keine im Minirock. Die wollen meiner Erfahrung nach meistens vögeln, Bestätigung, Geld oder ähnliches. Doch das wurde auf Dauer auch langweilig. Denn am nächsten Morgen war niemand da. Und wenn, dann konnte man sich nicht bei diesem Jemand Anregungen für ein neues Buch holen. Diese Frauen waren meistens langweilig. Sie sahen gut aus und jede von ihren hatte auch ihre besondere Art, aber für eine Muse reichte sie dann eben doch nicht aus. Julia war da anders. Sie war interessant und ich hörte ihr gerne zu. Ein ganz neues Gefühl.
Als sie aufsteht, um sich den Lippenstift auf der Toilette nachzuziehen, sehen ihr die Männer hinterher. Sehen allerdings nicht sie, sondern nur ihren jungen Körper, ihre Hülle. Doch das scheint sie wiederum nicht zu sehen. Einer legt seinen Arm um sie, begrabscht sie förmlich, doch sie ignoriert es höflich. Sie sieht die Menschen noch als Menschen.
Ein jeder beginnt mich nun zu hassen, wirft mir böse, neidische, geringschätzige Blicke zu. Man sieht es. Und ich spüre es vor allem. Ich weiß, was sie nun denken. Sie denken „Lustmolch“. Sie denken, ich solle doch für meine pädophilen Neigungen in den Knast. Ein jeder denkt, ich würde das Mädchen heute Abend mitnehmen. Keiner sieht uns als zwei Menschen, die sich unterhalten. Keiner. Sieht so etwa die Welt aus, heute?
Man sieht es. Jeder Mann in dieser Kneipe will dieses junge Mädchen eigentlich mitnehmen und will derjenige sein, der sie als erstes flachlegt und dabei ist keiner jünger als ich. Solch eine Projektion hätte ich dieser Kneipe gar nicht zugetraut. Und ich bin dennoch der Böse, in ihren Augen. Der Rest ist nur das Publikum vor der Showbühne. Alle warten sie darauf, dass ich einen Fehler mache. Sie bohren nach und meinen, dass Julia bereits einen Freund habe und dass dieser sie bereits flachlege. Und dieser besagte Freund sei ebenso alt wie sie alle in der Runde, also um die 40. Mich verwundert das nicht. Doch ich lese eine deutliche Abneigung auf den Gesichtern der Kenipenbesucher. Sie alle scheinen Julia nicht zu kennen. Nun gut, nach dieser kurzen Zeit kann ich sie noch weniger kennen, aber es ist schon erstaunlich, wie wenig sie von ihr halten, nur weil ihr Freund älter ist und sie ziemlich aufreizend duch die Menge auf hohen Schuhen schwebt. Weil sie ein Klischee erfüllt, wie ihr Freund, werden sie somit zum Gesprächsthema.
Mich interessiert das alles jedoch nicht. Denn das Thema der anderen ist nicht das, worüber ich reden will. Nur geben sie nicht auf, nerven mich, wollen wissen, wer ich denn eigentlich sei. Ich sage es nicht. Warum sollte ich? Die Diskussion mit diesen Menschen ist für mich beendet. Ich will nur mit Julia reden, den Moment genießen, mich inspirieren lassen. Ich will mit ihr um die Häuser ziehen und lachen, über das Leben nachdenken und weinen. Ich will sie als meine Muse, als gute Freundin, als jemanden, den man bei wichtigen Entscheidungen zu Rate zieht – Ist das denn ein Verbrechen?
Wie ging es also aus? Ich ließ die Vernunft siegen und fügte mich dann doch nicht den Vorurteilen der Masse. Letztendlich hielt ich diese Menschen für vulgär, jedoch nur in meinen Augen. Aber das ist Normalität. Das ist das Leben. Menschen wollen nicht über Bildung reden. Die Masse will nur eins. Ich jedenfalls fügte mich nicht. Ich stand auf, als Julia wiederkam und verabschiedete mich mit einem Handkuss. Die Getränke zahlte ich ihr. Und damit überraschte ich jeden. Denn jeder dachte schlechtes von mir. Jeder dachte, dass wir zusammen die Kneipe verließen. Zu dir oder zu mir? Zu mir. Und das alleine. Es kam mir im Inneren jedoch wie ein Fehler vor, denn ich hatte mich selten so gut mit einer jungen Frau im Alter von 20 unterhalten. Selten genug, dass man mit 40-jährigen die Welt hinterfragen und über Literatur reden kann. Aber eben noch seltener, dass dieser jemand eine junge Frau ist, mit der man nicht so ohne weiteres die Kneipe verlassen kann ohne als Bösewicht zu gelten.
Am dem Nachhauseweg merkte ich allerdings, dass ich mich ja doch irgendwie gefügt hatte. Sollte also Julia mir eines Tages wieder begegnen, und ich werde warten und suchen, so werde ich diesen Fehler nicht noch einmal begehen, mich nicht noch einmal bestimmen lassen von unwichtigen Vorurteilen. Ich wüsste, dass sich diese nicht bewahrheiten und Julia wüsste es auch. Und hätte ich an diesem Abend nicht an die Konsequenzen gedacht, hätte ich nicht an die Blicke und Andeutungen der anderen gedacht, so wäre dies wohl ein wunderschöner Abend gewesen, meine erste Begegnung mit Julia Key.