Forever feels like Home

Erster Tag: „Und das ist unser Schulhof. Hier machen die TG-, die WG- und wir, die SG-ler immer Pause.“ Während Sam das sagt, deutet sie auf einen riesigen Hof. Mein Blick schweift über eine gewaltig erscheinende Anlage mit bunt bemaltem Asphalt, Sitzbänken, Bäumen, Rasen und Schülern, die langsam den Pausenhof füllen. Das ist mein erster Tag an diesem Gymnasium. Zum Glück habe ich mich gleich auf Anhieb mit der Goth Sam verstanden. Sonst würde ich hier jetzt völlig planlos alleine herumstehen.
„Siehst du die da drüben?“ Sam deutet nun unauffällig auf ein paar Jungs. „Das sind welche vom Technischen Gymi. Ich rate dir aber Abstand von denen zu halten. Gerüchten zu Folge haben die alle einen Sprung in der Schüssel…“ „Alle?“ , frage ich, „Ist das nicht ein bisschen Klischeedenken?“ Das Mädchen mit den langen roten Haaren sieht mich leicht verwundert an, blickt kurz zu den Jungs, dann wieder mich an. Auf einmal grinst sie mir frech ins Gesicht und meint: „Oooo-kay. Dann los. Versuch dein Glück!“ „Mit was denn?“ „Weißt du, wie viele Mädels schon an denen da gescheitert sind? Die fühlen sich einfach zu gut.“

Zweiter Tag: Die Jahresversammlung steht an, bei der alle Schüler verpflichtet sind zu kommen. Ich hätte diese Schule für größer gehalten, aber es gibt nur 6 Klassen in den Stufen 11-13 von denen keine mehr als 30 Schüler hat. Das bedeutet, im Schnitt sind es maximal 540…Und die sind wiederum auf drei Gebäude verteilt. „Die Börse mit den Wirtschaftgenies, die Hölle mit den Technikfreaks und die Psycho-Station mit den Pädagogen, wo wir sind.“ flüstert mir Sam ins Ohr, die rechts neben mir sitzt. Links von mir sitzt niemand. Die Versammlung hat begonnen und der Direktor, ein strenger älterer Herr, leitet seine Rede ein. Auf einmal öffnet sich die Tür und die TG-Jungs von gestern betreten den Raum. Sie laufen den Gang entlang, sehen, dass neben mir noch was frei ist und setzen sich. Der Typ, der nun links von mir sitzt, tut so, als gäbe es mich gar nicht. Er breitet sich auf eine unmögliche Art aus. Irgendwann ramme ich ihm meinen Ellenbogen in die Rippen, worauf er mich erschrocken ansieht. Und jetzt verstehe ich, was Sam gemeint hat…er sieht nicht schlecht aus. Er macht mir wieder Platz, scheint aber nach dieser Aktion kein Interesse mehr an der Versammlung zu haben. Er kommt näher an mein Ohr und beginnt zu flüstern: „Du…sag mal…“ Ich drehe mich erschrocken zu ihm um und er lächelt mich an. Dieser Moment gefriert mir leicht in den Adern. Doch Sam zerrt mich weiter nach rechts und flüstert mir von rechts ins Ohr: „Sag mal, spinnst du jetzt?!“ Der Typ neben mir beugt sich über mich und mischt sich in Sams Flüstern ein: „Du…hehe…du sag mal! Du störst uns!“ Sam funkelt ihn mit ihren grauen Augen an, dann mich, obwohl ich ich nichts gemacht habe. Dann steht sie auf und setzt sich woanders hin. Ich blicke ihr verdutzt hinterher. Der Typ links von mir steht ebenfalls auf und folgt ihr. Er kniet sich sogar neben sie nieder und fängt an auf Sam einzureden. Ich blicke nach links zu seinen Kumpels, bei denen es scheint, als hätten sie davon gar nichts mitbekommen.
Rechts von mir nimmt auf einmal wieder Sam ihren Platz ein, links der Typ. Beide tun so, als wäre nichts. Ich frage jetzt nicht nach, was war.

„Was war denn vorhin mit dir los?“ frage ich Sam beim Hinausgehen, als die Rede vorbei ist. Sie sieht mich kurz an, schweigt. Schweigt auch noch die nächsten zwei Stunden bis zur Pause. Dann sagt sie auf einmal: „Der Cris ist ein Arsch!“
„Wer ist Cris?“
„Cris. Crystal. Cristoper!“
„Aha…“ Wir laufen über den Schulhof zu den Bänken. Bzw. Sam läuft irgendwohin und ich folge ihr. Dort angekommen setzt sie sich auf eine freie Bank und als ich mich neben sie setze meint sie: „Der von vorhin…der neben dir saß…“ ich blicke über den Schulhof, halte unauffällig Ausschau nach Cris. Doch er ist nirgends zu sehen. „Und warum ist der ein Arsch?“ frage ich Sam. Sie schweigt. Blickt zu Boden. Dann fragt sie mich plötzlich um vom Thema abzulenken: „Hast du einen Freund?“ Ich überlege sehr lange und sage dann schließlich: „Nein…“ „Sicher?!“ Sie lacht wieder. Ich bin froh darüber und antworte: „Ja!“ „Warum brachst du dann so lange zum antworten und ziehst dann eine Miene, als wäre dein Meerschweinchen gestorben!?“ „Ach…Liebe. Mehr muss ich nicht sagen.“ „Wie meinst du das? Du bist verliebt?! Ooooh, in wen? Kenne ich ihn?“ „Nein. Er ist älter…“ Ich beginne ihr schemenhaft von einem 47-jährigen Alki zu erzählen, der weder sein Leben noch sonst was im Griff hat. Sie hört mir staunend zu. Als ich mit meiner Story fertig bin meint sie: „Süß…aber raten kann ich dir leider nichts. Mein Freund zum Beispiel ist jünger als ich. Drei Jahre…“ „13?“ „14.“ „In welche Klasse geht er denn? Und auf welche Schule?“ „Er geht auf ein anderes Gymnasium. In die 8. Klasse.“ Sie lächelt mich an. Und ich lächele zurück. Ein Moment voller Verständnis. Altersunterschied kombiniert mit Liebe. Es gibt wenige Menschen, die solch eine Liebe tolerieren würden. Aber muss denn alles gleich verrückt sein? Ist Sam deshalb pädophil? Oder bin ich gerontophil?!

Dritter Tag: Heute haben wir zum ersten Mal die Woche Kunst mit den TG-lern. Sam wirft mir einen solidarischen Blick zu, als sich Cris an unseren Tisch sitzt und ich ihn grüße. Er grüßt zurück, wendet sich dann allerdings seinem Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt, zu. So sitzen wir also, zu viert.
Der Lehrer betritt das Klassenzimmer und erteilt uns auch gleich eine Aufgabe. Wir sollen etwas zeichnen. Etwas, das uns gerade so im Kopf schwebt. Ich zeichne eine Theke mit Alkoholhaltigem, Zigaretten und einem Aschenbecher. Sam zeichnet einen Drachen. Und Cris…zeichnet mich. Als ich auf sein Blatt linse, sieht er mich an. Ich sehe ihn an. Dann widme ich mich wieder meiner Zeichnung.
In der Pause stehe ich mit Sam in der Raucherecke. Sie stellt mir ihre Freunde vom Wirtschafts- Gymi vor. Es sind keine Gothics, wie sie. Die vom WG lassen sie auch nicht so rumlaufen. Da sind Anzug und Krawatte Pflicht. Einige von denen sehen auch ganz gut aus. Wir unterhalten uns über die Finanzkrise. Oder besser gesagt: Wer schon wieder Insolvenz angemeldet hat.
Aley, der anscheinend der Bruder von Sams Freund ist, meint zu mir, dass er lieber auf dem TG wäre. „Kannst du nicht mehr wechseln?“ frage ich ihn. „Nein…und ich würde das dort auch gar nicht aushalten…mit den komischen Typen. „Du…so komisch sind sie gar nicht.“ meine ich. Er sieht mich verwundert an, sagt dann aber nichts mehr. Und ich habe wieder dieses komische Gefühl jemandem das Gegenteil beweisen zu müssen. Wie bei Jo… ‚Der ist zu alt!‘ – ‚Der ist kaputt!‘ – ‚Geh dem nicht auf die Nerven!‘ Aber…ich bin nicht zu dumm. Nicht zu dumm für einen Alkoholiker. Nicht zu dumm für jemanden wie ihn…
Ich sehe Sam an. Sam sieht mich an. „Ja…ich geh dann mal noch woanders hin…“ , meine ich zu Aley und Co. und verschwinde für die anderen in einem Pulk von Schülern auf der Suche nach Cris. Ich finde ihn allerdings nicht. Nur zwei seiner Kumpels. Aber ich traue mich nicht sie zu fragen. Ich denke an jemanden, dem diese Situation leicht fallen würde und fühle mich auf einmal stark genug dort einfach hinzugehen. Und ich tu es.
„Hey ihr!“ Die zwei scheinen mich gar nicht zu bemerken und sehen durch mich hindurch. „Wisst ihr vielleicht, wo Cris ist?“ „Was willst?“ antwortet der eine von den beiden barsch mit einer Gegenfrage. Ich versuche nett zu bleiben und sage: „Cris und ich sind im selben Kunstkurs…ich wollte ihn was fragen.“ Den beiden verschlägt es demonstrativ die Sprache und sie gehen ohne mir eine Antwort zu geben. Ich folge ihnen bis zu einem Baum an dem Cris lehnt und eine raucht. Dann gehen sie wieder. Ich denke, mein danke haben die zwei noch gehört, auch wenn sie so tun, als ob sie taub wären. „Hey…auch eine?“ Cris bietet mir eine Marlboro an. Ich nehme sie und er gibt mir Feuer. „Was verschlägt dich zu mir?“ „Warum…hast du mich gezeichnet?“ Kaum ist diese Frage ausgesprochen, tritt Stille ein. Eine eigenartige Stille, die so lange andauert bis die Schüler sich in ihre Gebäude verziehen und Sam wartend mitten auf dem Pausenhof übrig bleibt. Ich trete die Zigarette aus, blicke noch einmal kurz in seine Augen und gehe wortlos in die entgegengesetzte Richtung, in die er muss.

Vierter Tag: Es ist Donnerstag. Sam und ich haben beschlossen heute Nachmittag was in der Stadt essen zu gehen, da wir beide weiter weg von dieser Schule wohnen und wir in der Mittagspause nicht mehr heimkommen. „Früher musste ich immer alleine essen…was bin ich froh, dass ich dich habe!“ Sie umarmt mich und ich sie. In diesen vier Tagen ist mir dieses sonderbare aber doch intelligente Mädchen wirklich ans Herz gewachsen.
„Morgen Abend gehe ich raus…“ sage ich, als wir uns wieder auf den Weg zur Schule machen.
„In die Kneipe?“
„Ja…“
„Zu…Jo?“
„Ja.“
Wir schweigen. Mittlerweile kennt sie so gut wie die gesamte Geschichte. „Weißt du…ich wüsste gerne seine Sicht der Dinge. Ich kann mir doch so etwas nicht einfach einbilden!“
„Ich kenne diesen Jo nicht. Aber ich schätze dich nicht so ein, dass du dich in Jungs…äh…Männer…verliebst, die dich verarschen….“ Ich lache. Sie lacht. Als wir uns wieder beruhigt haben, erzähle ich ihr von meiner Theorie: „Ich habe immer das Gefühl, dass ich zwar behaupte ihn zu lieben, aber mich nicht so verhalte. Ich habe das Gefühl ihm das Gegenteil zu vermitteln. Aber ich glaube, ihm geht’s genau so. Er weiß nicht, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Wenn ich am Freitag da rein komme, dann werde ich erst mal nett sein. Nein. Ich will es wirklich sein! Ich habe keine Lust auf das hin und her. Aber andererseits: Was mache ich, wenn er mich runtermachen will?“
„Das lässt du nicht zu. Du spielst einfach nach deinen Regeln und musst die Mitte zwischen nicht-Mitleid-erregend, nett-und-nicht-Ungerecht-sein und dem nicht-runtermachen-lassen finden!“
„Wow…ich glaube du hast Recht…und…eine Frage:Wie verhält man sich eigentlich, wenn man verliebt ist?“
„Das fragst du mich? Hmmm…okay. Das ist gar nicht mal so unberechtigt. Denn man kennt doch das Phänomen, dass man erst merkt, dass was fehlt, wenn es weg ist. Du hattest Jo nie. Also fällt das eigentlich bei dir weg. Deswegen liebst du momentan vielleicht einfach zu bedingungslos. Du krallst dich an jede Chance und willst alles richtig machen. Aber eigentlich bist du dabei nicht du selbst. Und ‚richtig‘ ist sowieso ein Arschloch! Denn es gibt immer ein paar für die dein ‚richtig‘ falsch ist. Du solltest vielleicht einfach mal sagen, was du willst,“
„Ich hab aber Angst davor…denn wer liebt, hat ja bekanntlich die Arschkarte gezogen. Aber steht etwa irgendwo an mir geschrieben: ‚Verliebt: Trample auf meinem Herz rum!‘?!
„Nein…ach, Julia. Ich glaube an dich! Du schaffst das. Du musst einfach zu dem stehen, was du tust.“
„Und nochwas…“
„Das Thema wird wohl nie durchgegessen sein…“
„Nein. Vorerst nicht. Solange ich lieben kann nicht! Also: Die Sache mit den anderen Männern…“
Ich beginne ihr von meinen Versuchen zu erzählen. Und wie falsch sich bis jetzt jeder Mann angefühlt hat. Und wie Jo eifersüchtig wird, wenn ich mit jemandem anderen auftauche. Am Ende muss ich ihm ja recht geben.
„Ich denke, ich werde nicht eher ruhen können, bis ich ihn habe…wenigstens einen kleinen Teil.“
„Und wenn du mehr willst?“
„Dann soll er gefälligst auch mehr wollen!“
„Hmmm…das wäre zumindest eine Art Liebestest. Das mit den anderen Typen ist doch nur Schrott. Du musst wohl selbst die Initiative ergreifen.
… Dieses Gespräch zog sich noch bis nach der Mittagsschule so hin.

Fünfter Tag: „Hast du heute Abend etwas vor?“ Ich blicke in Cris‘ Gesicht. Was soll ich antworten? „Ja…also eigentlich…“ „Okay.“ meint er. Ganz darauf verbissen seine Enttäuschung zu verbergen. „..aber du kannst gerne mitkommen.“ rutscht es aus mir heraus. Er lächelt. „Wohin denn?“ „Kennst du das Nest in V.?“
Und so mache ich ein Date klar. Mit einem dem gutaussehensten Typen vom ganzen TG. Seit Tagen sehen mich die anderen Schüler schon komisch an, weil ich mich so gut mit ihm verstehe. Aber seine Freunde haben mich schon akzeptiert. Ich frage mich nur, wie das endet. Er muss es nicht sagen. Irgendwie weiß ich, dass ich mehr für ihn bin, als er zugeben will. Er gibt mir Hinweise. Ich denke, ich werde ihm die Wahrheit sagen. Meine Wahrheit.
In der Pause sitzen wir uns auf der Wiese im Schneidersitz gegenüber und rauchen. Sam ist krank. Sie hat Fieber und deswegen bin ich heute alleine. Naja, nicht ganz…
„Cris…?“
„Hm?“
„Wie findest du es, wenn ein junges Mädl wie ich einen viel älteren Typen liebt…?
„29 Jahre älter und Alkoholiker?“
„Woher…?!“
„Ich kenne deine Geschichte. Ich habe deinen Blog gefunden und gelesen. Ich weiß, was du fühlst. Auch mir gegenüber.“
„Oh.“
„Und:..“ Er beugt sich vor, sieht mir tief und verschwörerisch in die Augen und meint: „Ich weiß, dass ich toll aussehe!“ Dann grinst er und sagt nichts mehr. Raucht. Schweigt. Ich weiß nicht wie er es schafft, aber ich will mit ihm reden. Ihn immer was fragen. Er hat eine Art, die ich sehr schätze. Ich kann mich super mit ihm unterhalten, auch wenn er nicht viel sagt.
„Cris…“
„Hm?“
„Was hältst du davon, dass wir heute Abend da hin gehen?“
„Ich werde nichts tun, was du nicht willst. Du weißt doch: Du bist mein ein und alles.“
„Danke. Und ich traue dir das auch zu. Ich…hab dich lieb.“ Und dann umarme ich ihn und gehe in meine Klasse.

„Bist du bereit?“ frage ich Cris während wir vor der Kneipe stehen. „Wenn du es bist.“ Ich merke, wie mein Puls höher wird. Cris nimmt meine Hand und zieht mich leicht in Richtung Tür. Dann lässt er sie los und hält mir die Tür auf. Ich sehe als erstes Jo. Alleine. Die Kneipe ist bis auf wenige Gäste Leer. Der Wirt begrüßt mich wie immer und ich begrüße auch alle. Jo sieht Cris skeptisch an. Und Cris sieht ihn fast noch skeptischer an. Dann entfernt er sich auf einmal von meiner Seite und stellt sich Jo vor. „Hallo Jo. Mein Name ist Cris. Ich bin Julias bester Freund.“ Jo lacht ihn an und schüttelt ihm die Hand. „Dann muss ich mich ja nicht mehr vorstellen?!“ meint er bloß. Und Cris meint: „Nein, ich kenne die Geschichte. Ich lese alle Geschichten von Julia. Und Sie kommen oft darin vor…“
„Aha?“
„Ja.“ Dann lächelt mich Cris an und verabschiedet sich…und lässt mich alleine. Lässt mir die Chance mit Jo zu reden, solange so gut wie niemand in der Nähe ist. Lässt mir den Moment. Und dafür bin ich ihm dankbar.
Ich sehe Jo an, sehe mein Umfeld und zu Hause. Und es fühlt sich an wie immer. Wie Liebe…jedes Mal aufs Neue…

Posted by Journey

Kategorie: (Kurz)geschichten

Autor: Journey

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