Niemand bemerkt, dass geputzt wurde, niemand sieht, wie sauber der Boden ist. Und niemand fragt sich, warum die Gläser so schön glänzen, weil das alles selbstverständlich ist.
Zum ersten Mal bin ich abends in dieser Kneipe. Normalerweise bin ich jeden Vormittag hier um die überreste der letzten Nacht zu beseitigen. Doch morgen hat die Kneipe geschlossen. Ich kann also auch einmal die Nacht durchmachen und erst am Nachmittag kommen.
Ich sitze also da und beobachte die Leute, denen ich immer hinterherputze ohne dass sie es wissen. Sie wissen nicht, wer ich bin. Nur Carlos, mein Chef und der Wirt dieser Kneipe, weiß das. Und er ist so solidarisch, dass er nichts sagt.
Ich nippe also an meinem Glas und mein Blick schweift durch die Menge von Menschen. Es ist ungewohnt diesen Ort so laut zu erleben. Und niemand scheint zu bemerken, dass die vielen Glasscherben weg sind. Jeden Morgen sind sie da. Die Glasscherben.
Ich frage mich, wer hier immer alles zerstören muss und beschließe, da ich nun schon mal hier bin, darauf zu achten. Und auf einmal höre ich das Zersprigen von Glas auf altem, mittlerweile schon ziemlich abgenutztem Steinboden…
Ich sehe, wie die Menschen auf einmal alle einen Mann ansehen, der entschuldigend in die Runde blickt, sich von dem kaputten Glas vor ihm aber nicht von seinem Gespräch abbringen lässt. Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Carlos, der das gar nicht zu bemerken schien, da er gerade alle Hände voll zu tun hat. Also stehe ich auf und hole selbst die Kehrschaufel. Dieser Idiot, der das Glas umgeworfen hat wird das wohl kaum tun.
Als ich auf einmal vor seinen Füßen die Scherben aufkehre, weicht er erschrocken zurück und sieht mich entgeistert an. „Was zum Teufel machen SIE denn da?!“ fragt er mich. Ich komme langsam hoch, die volle Kehrschaufel in meiner Hand und sehe ihn mir an. Dann sage ich entschlossen: „Aufkehren.“ Er tippt sich an die Stirn und dreht sich von mir weg.
Nachdem ich aus meiner Sekundensatrre wieder zu mir komme, werfe ich den Müll in den Korb und setzte mich wieder hin. Und mein Blick löst sich nun nicht mehr von dem Mann. So skrupellos und nervig wie er ist…hat er auch etwas Faszinierendes an sich.
In dem Wissen mir genug Mut angetrunken zu haben, gehe ich auf ihn zu und stelle mich neben ihn. „Ach Sie schon wieder…“ meint er bloß. Und irgendwas bricht in mir zusammen. Seine bissige, abwertende Art wie er mit mir redet, verletzt mich innerlich. Aber das lasse ich mir natürlich nicht anmerken. Ich lächle und meine bloß: „Was ist so schlimm daran, dass ich IHRE Scherben aufkehre?“
„Gerade das! Es sind MEINE Scherben!“
„Dann können SIE auch gerne jeden Morgen meinen Job machen und IHRE Scherben aufkehren!“
„Sie sind doch nicht ganz dicht!!“ brüllt er mich in seinem angetrunkenen Zustand an und schmeißt sein neues Glas auf den Boden. Ich sehe ihn erschrocken an, da reißt er mir auch schon mein Glas aus der Hand und lässt es ebenfalls fallen. Da packt ihn auf einmal Carlos und zerrt ihn raus. Ich sehe dem Mann hinterher wie er sich widerstandslos abführen lässt. Und auf einmal fühle ich mich leer. Wertlos und zersprungen wie das Glas.
Ich blicke auf mein Glas, das auf dem Boden liegt. Und entweder ich kehre weiterhin Tag für Tag die Scherben auf oder ich folge dem Mann, der sie verursacht. Entschlossen hebe ich also eine der Scherben als Art Erinnerung auf und verlasse die Kneipe.
Ich sehe den Mann auf einer Bank liegen. Er schäft anscheinend. Ich knie mich hin und sehe ihn an. Und zum ersten mal fällt mir auf, wie schön er ist. Und ich küsse ihn. Er öffnet schlagartig die Augen und sieht mich durcheinander an. Er weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wer er ist. Und wir wissen beide nicht, was wir hier machen. Aus diesem Grund sehe ich ihn wohl genauso an, wie er mich.
Mir ist das noch nie passiert. Noch nie habe ich jemanden geküsst, weil es mir etwas beteutet hat, weil der Moment mich dazu verleitet hat. Weil mein Herz es so wollte. Noch nie habe ich mich so von meinen Gefühlen leiten lassen. Und weil es so schön war, schließe ich die Augen und mache es nochmal. Und er erwidert meinen Kuss.
Mit Kopfschmerzen und Augenringen mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Und ich weiß, was mich wieder erwartet: Glasscherben.
Und beim Aufkehren jeder dieser einzelnen Scherben und Splitter fühlt es sich an, als würde ich in mir selber alles aufkehren und wegschmeißen. Und ich fühle mich leerer denn je.
Die eine Glasscherbe von gestern habe ich noch. Sie liegt nun neben mir, auf der Theke und ich blicke sie an. Ich habe alles sauber gemacht, nur das nicht. Aber ich kann sie nicht wegschmeißen. Es hängt zu viel daran. Es tut so weh.
Vorsichtig nehme ich sie in die Hand, schneide mich dann allerdings doch daran. Aber das ist mir egal. Dieser Schmerz ist im Vergleich zu dem in mir nur ein Bruchteil und kaum vergleichbar. Er zeigt mir nur, dass ich blute. Aber was hat Blut und das, was ich mache, schon mit Leben zu tun?