Kurzgeschichte: Liebe und Tod: Eine ewige Oszillation

Es regnet. So beginnt doch immer alles. Es regnet und die Straßen sind nass, die Tropfen prallen von den Blättern der Bäume ab auf den Asphalt. Es entsteht ein beruhigendes Geräusch. Ich starre ins leere. Rauche. Stehe einfach da auf dem Balkon und rauche. Mein Aschenbecher wird nicht nass. Nicht einmal meine Blumen werden nass. Mir kommt gerade der Gedanke, dass ich sie wieder einmal gießen könnte, da sehe ich, wie ein Mann von links die Straße entlangläuft. Ich frage mich nicht, wie ich aussehe, bzw. es ist mir egal. Ich bleibe da stehen und sehe ihm zu, wie er die Straße entlangtorkelt. Er scheint mich nicht zu sehen und legt sich auf die Straße. Ich sehe ihm auch dabei zu. Erst als er liegt und aufblickt, sieht er kurz zu mir hoch, sagt aber nichts und schließt seine Augen. Eine groteske Szene. Seine Kleidung scheint aufzuweichen, es wird nicht mehr als 5 Grad haben.
Irgendwann beuge ich mich etwas hinunter und beginne zu pfeifen. Er hört nicht. Dann rufe ich „Hallo!!“, doch er reagiert immer noch nicht. Ich drücke meine Zigarette im überquollenen Aschenbecher aus und gehe einen Schritt weiter. „Ein herrlicher Tag, um auf der Straße zu liegen, nä?!“ Er richtet sich auf, blickt mich an. Sein Anblick muss ebenso grotesk sein, wie meiner. Er sieht wohl gerade eine Frau mit verschmierter Schminke in einem grauen Pullover mit blassroten verfärbten Haaren. Er sagt nichts. Sein Alter schätze ich auf mitte dreißig. Aber ich glaube momentan sieht er einfach nur alt aus. Ich frage mich, ob er betrunken ist, doch da beginnt er mit klarer Stimme zu sprechen: „Das finde ich auch…sagen Sie…seit wann wohnen Sie denn da?“ Ich wundere mich über seine Frage, antworte aber mit „seit zwei Jahren.“ Er steht auf, sieht mich immer noch an. Ich zünde mir die nächste Zigarette an.
„Sagen Sie…glauben sie, dass die Autos anhalten werden, wenn ich hier liegen bleibe?“
„Sicherlich. Wenn sie sterben wollen, dann müssen sie in die nächste Stadt fahren, da gibt es einen Bahnhof.“ Er senkt den Kopf, scheint nachzudenken. Dann blickt er auf und fragt, ob ich ihm eine Zigarette runterwerfen kann. Ich meine, okay, aber die würde dann nass werden. Aber das scheint ihm nichts auszumachen. Also werfe ich. Er reagiert gut. Er fängt sie. Nach sekundenlangem Schweigen fragt er: „Und Feuer?“ Ich werfe ihm ein Feuerzeug runter, das mir nicht wichtig ist und auch das fängt er. Er zündet. Zieht. Raucht. Als ein Auto kommt, geht er auf den Gehweg vor meinen Balkon. Ich wohne im ersten Stock. Ich hoffe, er kommt nicht auf die Idee, das Feuerzeug hochzuwerfen. Ich bin eine schlechte Fängerin. Doch er steckt es ein. Ich sage nichts. Soll er seine Freude daran haben.
Er braucht lange für die Zigarette. Schweigt. Ich schwiege auch. Irgendwann wirft er den Filter auf den Boden und sieht zu mir herauf. „Warten Sie!“ ruft er und verschwindet hinter einer Hausecke. Ich ahne Schlimmes. Ahne, dass er zu mir in die Wohnung will.

Ich starre immer noch auf die Stelle, wo er lag, als ich höre, wie es klingelt. Ich mache die Tür auf und der Mann steht von meiner Tür. Er sieht irgendwie verrückt aus. Verrückt im Kopf. Ich sage nichts. Er überreicht mir nervös lächelnd mein Feuerzeug. „Also dann.“ meint er und dreht sich um, um die Tür gegenüber aufzuschließen. „Wir sind Nachbarn?!“ rutscht es mir raus, doch er dreht sich nicht mehr um. Er schließt die Tür vor meiner Nase. Ich frage mich, ob ich noch mal rufen, klopfen, auf mich aufmerksam machen soll. Aber letztendlich gehe ich doch zurück in meine Wohnung.
Ratlos stehe ich nun da. Blicke durch die Scheibe auf die verregnete Szenerie und schweife ab, weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Einfach im Raum stehen bleiben, mir einen Kaffee kochen? Ich gehe auf den Balkon zu, hole schon mal eine Zigarette aus der Schachtel und bemerke das Feuerzeug in meiner Hand. ‚Scheiße…der Typ will sich ja umbringen!’ fällt mir gerade noch ein, da nehme ich auch schon reflexartig meinen Schlüssel, ziehe meine Schuhe an und stehe vor der Tür gegenüber. Ich klingle. Es rumpelt, der Typ öffnet die Tür. Er hat feuchte Augen und scheint sein zittern zu verbergen. Er tut mir Leid. Ich frage, ob ich rein kommen darf. Er dreht sich wortlos um und lässt mir die Tür offen. Ich gehe hinein und blicke mich um. Mir fällt sofort auf, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Er hat seine Wohnung ähnlich eingerichtet wie ich und sogar denselben Schrank. Und…er hat genau so keinen Fernseher. Im Radio läuft der Deutschlandfunk. Alles scheint so ordentlich wie aus einem Katalog. Der Boden ist sauber und glänzt so gut abgewetztes Linoleum eben glänzen kann.

Er setzt sich aufs Sofa und legt den Kopf in die Hände Eine Gestik, die eine Mischung aus Trauer und Verzweiflung inne hat. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Immer habe ich mir vorgestellt, ich könne jemanden in so einer Situation helfen, da ich selbst schon etliche Male mit dem Leben Schluss machen wollte, doch irgendwie fehlt mir jetzt jeglicher Wortschatz. Und ich wollte nie zu denen gehören, die schön um Suizidgedanken anderer herumreden, als wären sie nicht vorhanden. Ich wollte immer die Dinge beim Namen nennen. Jetzt werde ich eines besseren belehrt.
Ich tue also das, was ich mir zumindest von anderen in so einer Situation gewünscht hätte, wenn man schon nichts zu sagen weiß. Ich setze mich neben ihn und umarme ihn. Seine Klamotten sind nass, aber das stört nicht. Er riecht gut. Und er wird schlagartig starr vor Schock. Denn wer erwartet denn schon, dass eine fremde Frau einen völlig fremden suizidalen Mann umarmt? Nach einigem Zögern umarmt er mich auch. Und noch bevor ich etwas sagen kann, meint er: „Danke…Sie sind wunderbar! Bitte…lassen Sie mich nicht mehr los.“ Mir kommt zwar der Gedanke, dass das schwierig werden könnte, aber ich bin so gerührt von seinen Worten und kann so dermaßen mit ihm mitfühlen, dass ich zusage.
Doch nach zwei Minuten lässt er zuerst los und sieht mich an. Direkt vor mir. Ich kann noch seinen Duft riechen. Irgendetwas teures…Calvin Klein oder so. Er lächelt. Ich lächle. Und jetzt sieht er mindestens sieben Jahre jünger aus…

„Ich bin übrigens Julia.“ meine ich in die ergreifende Stille und am liebsten würde ich mich in diesem Moment an ihn lehnen, aber das könnte nun wirklich befremdend wirken. Er stellt sich ebenfalls vor: „Lutz.“ Stille. „Sie dürfen mich übrigens duzen. Ich bin erst 19.“ Er sieht mich überrascht an. „Für so jung hätte ich Sie gar nicht gehalten….ähm…ich meine natürlich dich. Ich hätte dich nicht für so jung gehalten.“ „Ja…ich weiß. Ich sehe älter aus.“ Auf einmal fällt mein Blick in einen Spiegel. Er bemerkt es und deutet nur auf eine Tür. Ich bedanke mich, was im Nachhinein irgendwie blöd klingt und gehe ins Bad. Und da sehe ich es. Calvin Klein. Ich schnuppere daran und brenne mir das Aussehen und den Namen des Flakons ins Gedächtnis ein, während ich die Reste meiner Schminke wegwische. Ich bin auch nicht mehr die jüngste. Mich bringt alles viel zu leicht aus dem Gleichgewicht. Ich weine oft. Und viel. Und es ist mir egal, wenn nicht dieser seelische Schmerz da wäre…jeden Tag stehe ich auf dem Balkon und rauche, geplagt von Gedanken, was mal sein wird und dem Sinn hinter all dem. Wenn ich denn stehen kann und nicht kraft- und antriebslos im Bett liege.
Schlagartig bin ich niedergeschlagen und müde und als ich aus dem Bad komme sitzt der Kerl immer noch da und starrt aus dem Fenster. Selbst als ich mich neben ihn setze, reißt er seinen Blick nicht von der regnerischen Szenerie vor dem Balkon los. Ich sehe ihn aber an. Seine Kleidung ist immer noch nass, was ihn nicht zu stören scheint. Irgendwann blickt er dann zu mir herüber. Sein Gesicht ist nur knapp 30 cm von meinem entfernt, doch auf einmal steht er auf und macht die Balkontür auf. „Mach, wozu du immer Lust hast…“ sagt er und steigt aufs Geländer. Wir sind zwar im ersten Stock, aber reflexartig stehe ich neben ihm und hänge mich an ihn, versuche ihn runter zu ziehen. Er will das aber nicht. Er will gehen. Er will Schluss machen. Ich will das auch. Immer will man etwas. Sich umbringen. Was essen. Aufs Klo gehen. Eine bestimmte Person. Leben. Leiden. Lieben. Angerufen werden…aber das rückt alles in den Hintergrund. Ich will gerade nur, dass er weiterlebt. Also sage ich jetzt einfach, was ich denke. Er soll merken, dass er nicht alleine ist. Aber stattdessen sage ich: „Bitte…lass mich nicht alleine.“ Er sieht zu mir herab, steigt vom Geländer. Und ich habe schon wieder Tränen in den Augen. Und ich will ihm so vieles sagen, mein Herz und meine Suizidgedanken und philosophischen Sinn-des-Lebens-Fragen in die Hand legen, aber mir fehlen einfach die Worte. Und da ich keines herausbekomme, fange ich richtig an zu weinen, drehe mich beschämt um und wische mir die Tränen weg. Als ich mich umdrehe ist er wieder im Haus, liegt auf dem Bett und flucht leise vor sich hin.

Ich nähere mich ihm und lausche seinem Gefluche. Dann setze ich mich an die Bettkante und blicke aber nur auf den Boden. Ich höre leise böses Fluchen und frage letztendlich: „Tut mir Leid. Aber ich will nicht, dass du gehst…nicht weil man einfach nicht gehen darf…sondern weil ICH es nicht möchte.“
Er blickt zu mir, setzt sich auf und meint, dass das nicht so gemeint wäre…es sei etwas anderes, was ihm gerade nur zusätzlich Kopfzerbrechen bereite. Als ich ihn frage, was das sei, erhalte ich einen tiefen Blick, der mir ins Mark geht und keine Antwort. Irgendwie fühle ich mich dennoch leer. Und schlagartig müde. Ausgelaugt. Ohne nachzudenken lege ich mich ebenfalls auf das kleine Bett, lege meinen Arm um ihn und schlafe ein.

Mitten in der Nacht werde ich wach und liege alleine im Bett. Ich weiß erst gar nicht wo ich bin, aber schlagartig fällt mir alles wieder ein. Lutz! Ich blicke auf, doch er liegt auf einer Matratze auf dem Boden. Schlagartig fällt mir ein Stein vom Herzen, als er sich zu mir dreht und meint. „Scheiße…es tut mir so Leid.“ Er weint. Ich weiß nicht warum. Schließlich richte ich mich auf und frage ihn ganz direkt nach seinen Problemen. Er erzählt sie mir. Er müsse sein Leben lang Tabletten nehmen, fühle sich nicht als richtiger Mann, weil ihn so vieles aus der Bahn wirft, er weiß nicht, an wen er sich wenden soll, sein Leben hat kein Sinn mehr, alles ist furchtbar und er sollte am besten gar nicht auf der Welt sein. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am liebsten würde ich ihm sagen was ich denke. Dass ich ihn für eine sehr interessante Person halte und dass er gut riecht. Einfach, dass ich ihn mag. Aber das klingt so naiv. Schließlich erzähle ich von meinen Problemchen. Von der Zukunftsangst. Von dem Gefühl, nichts zu können und überflüssig zu sein. Von dem Alleinsein und dass bei mir auch immer das Radio an ist, damit ich überhaupt eine Stimme höre. Außerdem erzähle von frühen Morgenstunden, die ich nur im Bett verbringe, weil ich keine Kraft habe aufzustehen und vom oft späten zu-Bett-gehen, weil ich Angst vor dem Träumen habe, da sie sowieso nichts mehr wert sind und meine Realität am nächsten Morgen dieselbe graue sein wird wie immer. Am Schluss meiner Rede meint er, das habe ich schön formuliert. Dann richtet er sich auf und ich frage ihn, ob er nicht schlafen kann. „Nein…kann ich nicht.“ antwortet er leicht beschämt und ich deute ihm an, sich neben mich zu legen. Obwohl es eng ist, passen wir beide drauf, wenn wir seitlich liegen. Er liegt hinter mir, berührt mich jedoch nicht. Ich spüre seinen Atem im Nacken. Rieche sein Parfüm. Und nehme einfach einen Arm und lege ihn um mich. Ich war noch nie so mutig. Aber ich habe ja auch nichts zu verlieren. Nur ein Menschenleben und der Preis ist mir zu hoch. Das Gefühl zählt im hier und jetzt. Wenn ich es nicht auslebe, geht er. Und ich weiß, was mir wichtiger ist. Schüchtern zu sein wäre in so einem Moment sinnlos. Wir schlafen ein…

Zwei Wochen später
Die Sonne scheint in meine Wohnung. Es ist morgen und ich fühle mich warm. Kraftvoll. Ich stehe auf, ziehe mir etwas über, nehme mir meine Zigaretten und mein aktuelles Lieblingsfeuerzeug von der Bar und gehe auf den Balkon. Mein Aschenbecher ist geleert, meine Blumen sind gegossen, die Sonne geht in einem Farbenspiel aus rot und lila auf. Ich blicke hinab. Auf der Straße steht in Kreide geschrieben: Ich liebe dich mehr als den Tod!

Posted by Journey

Kategorie: (Kurz)geschichten

Autor: Journey

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2 Kommentare        

Sehr schön die Kurzgeschichte! Ich schreibe selber auch und zwar genauso über Probleme die mich in irgendeiner Form beschäftigen. Ich bin wirklich begeistert. Weiter so!! =)

Vielen Dank für deinen Kommentar!! Und jetzt hast du mich aber neugierig gemacht…kann man denn so eine Geschichte von dir irgendwo lesen? : )

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