Perfect

Laufen. Laufen bis nach vorne, eine Pose, dann wieder zurück und das Ganze wieder von vorne. Again and again. Meine Gedanken? Sind da, wo sie nicht sein sollten…

„Ich habe Hunger…“ sage ich zu meinen Kolleginnen und will mir gerade etwas von Buffet nehmen, da haut mir Marcel, mein Agent, auf die Finger. „Nichts da! Du isst vor der Show jetzt nichts!!“ „Aber…“ Ich ernte nur böse Blicke von Magersüchtigen, die nicht magersüchtig sind, und der Crew. Ein Model, das Hunger hat gibt’s nicht, sagt Marcel immer. Als wäre ich eine Maschine…

Mein Part. Ich laufe vor, Blitzlichtgewitter, das Lied für meinen Auftritt wird nebenher gedudelt und…ich? Hab immer noch Hunger. Lasse mir aber nichts anmerken. Eigentlich habe ich ja auch schon was gegessen. Aber sie lässt sich nicht füllen, die Leere in mir. Es ist zum verrückt werden! So viele Mädels reißen sich um diesen Job. Aber was ist dran? Nichts. In den Bar werde ich nur von notgeilen Männern angesprochen, der Rest ruft nicht an oder hat Angst vor mir. Was nützt mir gutes Aussehen? Ist genauso wenig wert wie der Charakter…in dieser Welt hat mittlerweile das nicht mal einen Stellenwert. In dieser Welt verliert langsam alles seinen Stellenwert…

Laufen. Laufen bis nach vorne, eine Pose, dann wieder zurück und das Ganze wieder von vorne. Again and again. Meine Gedanken? Am liebsten würde ich etwas gegen dieses sich widersprechende Regime unternehmen, das Kultur für Kultur zerstört und das Individuum jedes einzelnen in die Luft sprengt. Alle amen nur dem einen nach. Was ist in? Was tragen alle? Stimmt die Hose nicht, bist du out und kannst uns mal. Dann bist du kein Mensch mehr für uns. Hab 90-60-90 und du wirst vielleicht flachgelegt…und nur auf das reduziert. Sag was Intelligentes und die Leute lachen dich aus, weil niemand dich versteht…

Tränen laufen mir über die Wange. Mein Handy liegt neben mir: Schwarz. Ich bin im Hotelzimmer. Immer noch geschminkt und angezogen. Es wäre mir egal, wenn jetzt Marcel oder eine Tussi vom Backstage rein käme. Sollen die mich doch so sehen. Heulend über mein Leben nachdenkend. Doch nicht nur über meines. Über das vieler armer Seelen, deren Meinung so in die Grundfesten erschüttert wird, so dass sie sich aus Widerwillen trotzdem anpassen. So wie ich. Reichtum und Schönheit. Charakter. Alles ist gar nichts mehr wert. Da sie nach dem Perfekt streben, aber eigentlich, und nüchtern gesehen, nicht wissen, was sie wollen.
Was ist aus den Menschen geworden, die etwas bewegt haben? Entweder vergessen oder einfach Verbrecher gewesen. Niemand liest mehr, alle schweigen, keine Bildung. „Was Bücher?!“ „Was ich lesen? Wofür da TV?!?!“ „Ich will sein wie *irgendein Star!!“ „Was willst du fette *** denn von mir?!“
Aber trotzdem streben sie alle nach dem Perfekt, das es nicht gibt. Nach einem Leben, das sie nicht haben. Vermutlich erst durch dazulernen haben werden. Doch wie sollen sie denn lernen? Sie wissen das alles nicht einmal. Und die Welt schaut zu. Und Handywerbung flimmert weiterhin über den Bildschirm…alles perfekte Zombies.
Perfect.

Posted by Journey

Kategorie: (Kurz)geschichten

Autor: Journey

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